Grossbritannien hat sich vom Corona-Sorgenkind zum Vorreiter gewandelt: Heute Montag erfolgt der erste grosse Öffnungsschritt. Bis am 21. Juni sollen alle Massnahmen aufgehoben werden.
Es ist der erste grosse Schritt auf der von Premierminister Boris Johnson angekündigten «Einbahnstrasse in die Freiheit». Nach Monaten im Corona-Lockdown haben in England am Montag wieder Geschäfte, Coiffeure und Biergärten geöffnet. Dutzende stehen für einen Haarschnitt an oder für Kleider, andere geniessen ein erstes Pint Bier im Regen.
Herrschte noch vor wenigen Monaten Corona-Chaos, hat sich Grossbritannien mittlerweile zum Vorreiter im Kampf gegen die Pandemie gewandelt.
Möglich sind die Öffnungen wegen der deutlich niedrigeren Neuinfektionen, die vor allem dem raschen Fortschritt des Impfprogramms zu verdanken sind. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei knapp 30 Fällen pro 100 000 Einwohnern; mehr als 32 Millionen Menschen – weit mehr als die Hälfte der Erwachsenen – haben eine erste Impfung gegen das Coronavirus erhalten.
Johnson rief seine Landsleute jedoch auf, vorsichtig zu bleiben und nicht über die Stränge zu schlagen. Kontaktbeschränkungen bleiben in Kraft, Auslandsferien sowie Treffen in geschlossenen Räumen verboten.
3000 Leute auf der Warteliste
Die ersten Kosmetikstudios und Coiffeure öffneten bereits um Mitternacht. «Es ist unglaublich», sagte Toni Hendry von einem Salon in London dem Sender Sky News. «Wir haben 3000 Leute auf der Warteliste. Es hat drei bis vier Wochen gedauert, die Termine zu organisieren.»
Amy Pallister liess sich als eine der ersten Kundinnen einen Haarschnitt verpassen – zum ersten Mal seit sieben Monaten. Nun könne sie das Leben wieder geniessen, sagte sie der Nachrichtenagentur PA. «Hoffentlich hilft mir mein neuer Haarschnitt, ein Date zu haben. Ich bin schon lange Single – ich denke, dies wird helfen.» Nun wolle sie so bald wie möglich in den Pub, um ein Bier zu trinken.
Auch die ersten Gaststätten hatten früh auf und meldeten Hochbetrieb. Freie Plätze waren rar – seitdem Johnsons Lockerungs-Fahrplan bekannt ist, meldeten landesweit Pubs «ausgebucht». «Es schmeckt fantastisch – und wird nicht lange halten», sagte Pippa Ingram, als sie in Ramsgate am Ärmelkanal den ersten Schluck von ihrem Pint nahm.
Abstandsregeln gebrochen
Im südostenglischen Städtchen Cranleigh liessen sich zwei Männer auch vom strömenden Regen nicht abhalten, ihren Imbiss im Sitzen zu verzehren, wie ein Bild zeigt, das auf Twitter breite Beachtung fand. Die Nachfrage war überall gross. «Das Thermometer zeigt ein Grad, es schneit, und 100 Gäste wollen im Freien essen», twitterte der Chef des Londoner Nobel-Italieners «Il Portico», James Chiavarini. «Es macht einen stolz, Brite zu sein.»
Doch manche übertrieben es wohl ein wenig: In Coventry prüfen die Behörden, ob Abstandsregeln gebrochen wurden, als um Mitternacht gut 100 Menschen vor einem Biergarten warteten. Und in die Freude vieler Pub-Liebhaber und der Wirte mischt sich auch der Ärger anderer Kneipiers. Nur 40 Prozent der Gaststätten könnten öffnen, hat der Branchenverband British Beer and Pub Association errechnet – die übrigen bieten nicht ausreichend Platz im Aussenbereich.
Auch Johnson will zum Coiffeur
Dennoch: Die Wirtschaft zeigte sich erleichtert über den Öffnungsschritt. Das legen auch Zahlen des Daten-Dienstleisters Altus Group nahe: Mehr als 400'000 Geschäfte dürfen öffnen, ausserdem 20'000 Coiffeure, 4162 Fitnessstudios, 65 Zoos und Safariparks sowie 75 Freizeitparks.
Auch Ferien im Inland sind wieder möglich, dafür stehen 63'500 Ferienwohnungen bereit. Seit Anfang Januar hatten wegen des bereits dritten Lockdowns weitreichende Kontakt- und Reisebeschränkungen gegolten. Mehr Arbeit kommt nun auch auf die Polizei zu. In London würden die Kräfte aufgestockt, kündigte Vize-Polizeichefin Jane Connors an.
Die Aufregung um Öffnungen hat auch Politiker erreicht. Premier Johnson wollte sich bereits am Montag seinen charakteristischen Wuschel-Haarschnitt trimmen lassen. Auf sein erstes Pint muss er aber noch warten. Zwar hatte er angekündigt, gleich am Montag «langsam, aber unwiderruflich» ein Pint an seine Lippen zu führen. Wegen der Staatstrauer nach dem Tod von Queen-Gatte Prinz Philip hat er den Pub-Besuch aber verschoben.
Am 21. Juni sollen alle Massnahmen aufgehoben werden
Auch in anderen Gebieten des Vereinigten Königreichs wurden manche Regeln gelockert. Wales gestattet nun wieder nicht notwendige Reisen in andere Landesteile und in Nordirland hoben die Behörden die «Stay at Home»-Anordnung auf – Schüler gehen wieder in die Schulen. In England ist der nächste Lockerungsschritt für den 17. Mai geplant. Dann sollen Restaurants und Pubs auch ihre Innenräume wieder öffnen dürfen. Auslandsferien könnten dann ebenfalls wieder erlaubt werden – derzeit drohen hohe Geldstrafen. Ganz aufgehoben werden sollen die Corona-Regeln dann am 21. Juni.
Doch Premier Johnson hat angekündigt, alle Lockerungen noch einmal zu überprüfen. Mindestens 127'000 Menschen sind im Zusammenhang mit dem Virus in Grossbritannien bereits gestorben – die hohe Zahl lastet auf der Regierung. Einen neuen Lockdown will Johnson unbedingt vermeiden.
SDA