Corona-Krise Brasilien rückt immer mehr ins Zentrum der Pandemie

AP/tsha

27.4.2020

Massengrab in Manaus: Das Coronavirus fordert in Brasilien immer mehr Todesopfer.
Massengrab in Manaus: Das Coronavirus fordert in Brasilien immer mehr Todesopfer.
Bild: Keystone

Gesundheitsexperten rechnen damit, dass die Zahl der Infektionen in Brasilien deutlich höher als die gemeldete Zahl sein wird. Tests sind unzureichend und verzögert. Präsident Jair Bolsonaro rückt dennoch nicht von seinem Standpunkt ab, dass das Virus nicht so schlimm sei.

Brasilien, das grösste Land Lateinamerikas, entwickelt sich zu einem der grössten Zentren der Coronavirus-Pandemie weltweit. Mitarbeiter des Gesundheitssystems in Rio de Janeiro und mindestens vier anderen Grossstädten haben gewarnt, dass ihre Krankenhaussysteme kurz vor dem Zusammenbruch stünden oder bereits zu überlastet seien, um weitere Patienten aufzunehmen. Gesundheitsexperten rechnen damit, dass die Zahl der Infektionen in Brasilien mit seinen 211 Millionen Einwohnern deutlich höher als die gemeldete Zahl sein wird, weil Tests unzureichend und verzögert erfolgten.

Gleichzeitig hat Präsident Jair Bolsonaro keine Anzeichen dafür zum Ausdruck gebracht, dass er von seinem Standpunkt abrücken wird, dass mit dem Coronavirus nur eine relativ geringfügige Erkrankung verbunden sei und breit angelegte Massnahmen zur Wahrung des Abstands von Menschen zueinander nicht benötigt würden, um sie zu stoppen. Er hat gesagt, nur Brasilianer, bei denen das Risiko hoch sei, sollten isoliert werden.



In Manaus, der grössten Stadt im Amazonasgebiet, haben Behördenvertreter berichtet, dass auf einem Friedhof Massengräber hätten ausgehoben werden müssen, weil es so viele Todesfälle gegeben habe. Arbeiter haben 100 Leichen pro Tag bestattet - das ist dreimal so hoch wie der Durchschnittswert von Bestattungen vor dem Virus.

Immer mehr Tote

Ein 20-jähriger Fahrer eines Bestattungsunternehmens in Manaus, Ytalo Rodrigues, sagte, er habe in einem Zeitraum von mehr als 36 Stunden ohne Pause eine Leiche nach der anderen abgeholt. Es habe so viele Todesfälle gegeben, dass sein Arbeitgeber einen weiteren Leichenwagen habe hinzufügen müssen, sagte er.

Bislang hat das brasilianische Gesundheitsministerium knapp 53'000 Coronavirus-Fälle und mehr als 3'600 Todesfälle bestätigt. Nach offiziellen Zählungen erlebte Brasilien am Donnerstag seinen bis dahin schlimmsten Tag in der Pandemie, mit rund 3'700 neuen Fällen und mehr als 400 Todesfällen. Freitag war fast genauso verheerend.

Experten warnen, dass der Mangel an Tests bedeute, dass die wahre Zahl von Infektionen weit höher sei. Weil es lange dauern könne, bis Tests ausgewertet seien, spiegelten die derzeitigen Zahlen tatsächlich Todesfälle wider, die vor ein oder zwei Wochen erfolgt seien, sagte der Dozent Domingos Alves von der Universität São Paulo, der in das Projekt involviert ist. «Wir schauen uns ein Foto der Vergangenheit an», sagte Alves in einem Interview in der vorvergangenen Woche. «Die Zahl der Fälle in Brasilien ist daher wahrscheinlich sogar grösser als was wir vorhersagen.»

Eine Million Infizierte befürchtet

Wissenschaftler der Universität São Paulo, der Universität Brasília und anderer Institutionen sagen, die echte Zahl der Infektionen mit Stand vergangene Woche liege wahrscheinlich bei 587'000 bis 1,1 Millionen. Das Gesundheitsministerium hat nach eigenen Angaben aus dem laufenden Monat Kapazitäten für 6'700 Tests pro Tag - das ist weit von den rund 40'000 entfernt, die es für den Höhepunkt der Virusausbreitung braucht.

Mann in Sao Paolo: Vor allem die Armen haben keinen Zugang zum Gesundheitswesen.
Mann in Sao Paolo: Vor allem die Armen haben keinen Zugang zum Gesundheitswesen.
Bild: Keystone

Im brasilianischen Staat Rio de Janeiro waren einer Mitteilung zufolge alle bis auf eines von sieben staatlichen Krankenhäusern, die für die Behandlung von Corona-Patienten ausgestattet sind, voll. Sie konnten nur neue Patienten aufnehmen, wenn andere genesen oder gestorben waren, wie aus dem Pressebüro des Gesundheitssekretariats verlautete. Die einzige Einrichtung mit freien Plätzen befand sich zwei Stunden Autofahrt vom Zentrum der Regionalhauptstadt Rio de Janeiro entfernt.

In der Hauptstadt des Staats Ceará, Fortaleza, teilten staatliche Behördenvertreter am Freitag mit, die Intensivstationen für Corona-Patienten seien zu 92 Prozent voll. Gesundheitsexperten und Behördenvertreter sind besorgt, dass sich das Virus auf die ärmsten Viertel, die als Favelas bekannt sind, ausbreite, wo die Bewohner auf öffentliche Gesundheitsversorgung angewiesen sind.

«Ich habe viele Leichen gesehen»

Die 65-jährige Rentnerin Edenir Bessa aus dem Arbeiterviertel Mangueira in Rio brauchte am 20. April eine medizinische Behandlung. Sie wurde an zwei vollen Orten abgewiesen, bevor sie an einem dritten, rund 40 Kilometer entfernt, aufgenommen wurde. Stunden später wurde sie per Rettungswagen fast den ganzen Weg zurück verlegt, wie ihr Sohn Rodrigo Bessa sagte. Dennoch sei sie über Nacht gestorben. Er habe ins Krankenhaus gemusst, um ihre Leiche zu identifizieren.



«Ich habe viele Leichen, bei denen auch Covid-19 vermutet wurde, im Keller des Krankenhauses gesehen», sagte der Krankenpfleger Bessa. Das Krankenhaus entliess Edendirs Leichnam mit der Diagnose mutmasslicher Corona-Fall, wodurch ihr Tod wie viele andere nicht in die offizielle Zählung der Regierung aufgenommen wird. Eine kleine Gruppe Familienangehöriger versammelte sich am Mittwoch mit Gesichtsmasken zu ihrer Bestattung. «Die Menschen müssen glauben, dass dies ernst ist, dass es tötet», sagte Bessa.

Bolsonaro hat sich nicht von den düsteren Prognosen von Gesundheitsbehördenvertretern über die Ausbreitung des Virus in Brasilien aufhalten lassen. Vorvergangene Woche entliess er den Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta, der sich für harte Anti-Virus-Massnahmen eingesetzt hatte. Bolsonaro entschied sich für einen Gesundheitsminister, der für eine Wiederöffnung der Wirtschaft ist. Die Anstrengung für die Wiederankurbelung der Wirtschaft «ist ein Risiko, das ich eingehe», sagte Bolsonaro bei der Vereidigung seines neuen Gesundheitsministers Nelson Teich.

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