Brexit-Chaos in Grossbritannien Boris Johnsons Wahlkampfstrategie: Das Volk gegen das Parlament

AP

10.9.2019

Der britische Premierminister Boris Johnson ist in der Nacht auf Dienstag erneut mit seinem Antrag auf Neuwahlen gescheitert.
Der britische Premierminister Boris Johnson ist in der Nacht auf Dienstag erneut mit seinem Antrag auf Neuwahlen gescheitert.
Bild: Keystone/EPA UK/UK Parliamentary Recording Unit / Handout

Ein erfolgreicher Stratege der Brexit-Kampagne schreibt an Johnsons Drehbuch für eine Neuwahl. Er lässt sich von Trump inspirieren.

Der britische Premierminister Boris Johnson könnte nach seinen jüngsten Niederlagen im Parlament aus einer möglichen Neuwahl durchaus als Gewinner hervorgehen. Seine Strategie: Er will sich im Wahlkampf als gepeinigter Vollstrecker des Volkswillens darstellen, der gegen das Parlament für einen Austritt Grossbritanniens aus der EU ankämpfte.

Johnson verlor sechs wichtige Abstimmungen, bevor er das Parlament während einer entscheidenden Brexit-Phase in eine fünfwöchige Zwangspause schickte. Wenn das Parlament danach wieder zusammentritt, gehen viele Beobachter von einer parteiübergreifenden Einigung auf eine Neuwahl aus, die Johnsons Popularität ausserhalb des Parlamentsgebäudes auf die Probe stellen würde.

Nach einem teilweise von dem ranghohen Berater Dominic Cummings erarbeiteten Masterplan hoffen Johnson und sein Team, die Wahl als «das Volk gegen das Parlament» darzustellen. Cummings hatte schon bei der Kampagne für einen EU-Austritt vor der Volksabstimmung von 2016 eine wichtige Rolle gespielt. Nach dem Drehbuch wäre das Volk – repräsentiert von Johnson und den Kandidaten seiner Konservativen Partei – die Guten, die das Ergebnis des Referendums umsetzen wollen, bei dem die Teilnehmer mit einem Vorsprung von vier Prozentpunkten für den Austritt aus der EU gestimmt haben. Die Konservative Partei hat sich jener Moderaten grossenteils entledigt, die nicht die Bereitschaft teilen, einen Austritt ohne Abkommen mit der EU und die damit verbundenen wirtschaftlichen Risiken in Kauf zu nehmen.

Das Parlament und die Oppositionsparteien hingegen sollen als Bösewichte dargestellt werden, die entschlossen seien, den Willen des Volkes mit endlosen Verzögerungen zu vereiteln.

Wir gegen die!

Johnson ist bewusst, dass viele Wähler der Angelegenheit überdrüssig sind und sagt, er wolle keine Wahl, betrachte sie aber als einzige Möglichkeit, den Brexit umzusetzen. Er kann das Parlament beschuldigen, ihm die Hände mit einem Gesetz gebunden zu haben, das einen Austritt ohne Vereinbarung am 31. Oktober verbietet, und sagen, die Abgeordneten seien entschlossen, das Brexit-Referendum zu übergehen, weil ihnen das Ergebnis nicht recht sei.

Das Wir-gegen-die-Szenario, auf das Johnsons Team setzen möchte, erinnert an US-Präsident Donald Trumps Ansatz «trocknet den Sumpf aus», mit dem er im Wahlkampf von 2016 erfolgreich war.

Es ist zu früh, um klar vorherzusagen, wie sich die Wahlkampfphase gestalten würde, da es zu viele Unbekannte gibt, insbesondere mit Blick auf mögliche Bündnisse. Eine Schlüsselfrage ist, ob Johnson sich mit Nigel Farages Brexit-Partei verbünden will, wodurch die Brexit-Befürworter vereint würden.

Johnson und Farage hatten während der Kampagne vor dem Referendum erfolgreich zusammengearbeitet und beide argumentiert, dass ein EU-Austritt Grossbritannien die Kontrolle über seine Gesetze und Grenzen zurückgeben würde. Farage ist ein Ein-Thema-Politiker, der mehr Bereitschaft als Johnson gezeigt hat, Zuwanderern die Schuld an manchen Problemen Grossbritanniens zu geben.

Johnson könnte eigene Partei spalten

John Curtice, ein Umfrageexperte der Universität Strathclyde, sagte, Johnson könnte ein erfolgreiches Bündnis mit Farage eingehen, falls es ihm nicht gelingt, der Europäischen Union Zugeständnisse abzuringen und er sich entscheidet, offen einen Brexit ohne Abkommen anzustreben. «Wenn er eine Vereinbarung mit Farage trifft, und einen «No Deal» befürwortet, und Farage bereit ist, mit ihm zusammenzuarbeiten, schafft das die Möglichkeit eines siegreichen Bündnisses, enthält aber das Risiko, seine eigene Partei zu spalten», sagte er.

Curtice fügte hinzu, dass Johnson möglicherweise auch gewinnen könnte, indem er ein Abkommen mit der EU erzielt, das vom Parlament unterstützt wird, und Wähler der Brexit-Partei zurück zu den Konservativen holt. «Er hat zwei Wege, von denen keiner leicht ist», sagte Curtice.

«Das Parlament hat uns völlig im Stich gelassen»

Johnson wird verärgerte Wähler zurückgewinnen müssen, die sich von Kandidaten wie Jonathan Bullock angesprochen fühlen, dem Vorkämpfer der Brexit-Partei im ostenglischen Boston, einer Hochburg von Brexit-Befürwortern. «Das Parlament hat uns völlig im Stich gelassen», sagte Bullock. Es sei gegenwärtig voller «Remainers», die den Brexit auf ewig verzögern wollten.

Bullock ist für eine Neuwahl, doch bei Johnson ist er sich nicht sicher. «Boris sagt das Richtige, aber können wir ihm vertrauen?» fragte er. «Die Person, der man vertrauen kann, ist Nigel Farage, der die ganze Zeit diesbezüglich stets recht hatte. Er sagte, dass das Establishment versuchen würde, den Brexit zu stoppen, und er hatte absolut recht.»

Johnsons Team glaubt auch, er könne vom Linksruck der oppositionellen Labour-Partei unter Jeremy Corbyn profitieren, der für viele Wähler polarisierend ist. So wie Johnson manche moderaten Konservativen befremdet hat, fehlt Corbyn die Unterstützung mancher langjähriger Labour-Figuren, die sich von seinem doktrinären Ansatz abgestossen fühlen.

Doch Johnson steht einem möglicherweise wirksamen informellen Bündnis der Oppositionsparteien Labour, Liberaldemokraten, schottische Nationalisten und kleineren Regionalparteien gegenüber. Labour hat sich unter Corbyn nicht klar zum Brexit positioniert, ist aber gegen einen Austritt ohne Abkommen. Die Liberaldemokraten und die schottischen Nationalisten sind klar gegen den Brexit. Diese Parteien haben zusammen Johnsons Bestreben nach einer sofortigen Neuwahl scheitern lassen. Es ist aber nicht klar, ob sie vergangene Rivalitäten begraben und längerfristig eine gemeinsame Basis finden können.


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