Grossbritannien Johnson muss nächste Niederlage einstecken – Neuwahlpläne geplatzt

von Silvia Kusidlo, Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

10.9.2019 - 07:53

An ihrem letzten Sitzungstag vor der Zwangspause haben die Abgeordneten im britischen Parlament wieder gegen Neuwahlen gestimmt. Bereits zuvor musste Premier Boris Johnson Niederlagen kassieren.

Das Unterhaus verabschiedet sich mit weiteren Niederlagen für Boris Johnson in die vom Premierminister auferlegte Zwangspause. Seine Pläne für eine Neuwahl vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober sind geplatzt. Johnson will sich aber einem Gesetz, das ihn zur Brexit-Verschiebung zwingen soll, nicht beugen.

Der britische Premierminister Boris Johnson ist in der Nacht zum Dienstag zum zweiten Mal mit seinem Antrag auf eine Neuwahl gescheitert. Er verfehlte die nötige Zweidrittelmehrheit im Unterhaus mit 293 von 650 Stimmen bei weitem. Es gibt damit keine Möglichkeit mehr für eine Neuwahl vor dem geplanten Brexit-Datum am 31. Oktober.

Am letzten Sitzungstag vor einer fünfwöchigen Sitzungspause hatte Johnson zuvor weitere Niederlagen kassiert. Die Abgeordneten stimmten unter anderem für die Herausgabe von Regierungsdokumenten und interner Kommunikation zur Planung für einen No-Deal-Brexit und zu der von Johnson auferlegten Zwangspause. Das Parlament soll erst wieder am 14. Oktober zusammentreten.

Der britische Premierminister Boris Johnson verlässt in einem Auto das britische Parlamentsgebäude, nachdem sein Antrag auf eine Neuwahl zum zweiten Mal abgelehnt wurde.
Der britische Premierminister Boris Johnson verlässt in einem Auto das britische Parlamentsgebäude, nachdem sein Antrag auf eine Neuwahl zum zweiten Mal abgelehnt wurde.
Bild: dpa

Bercow kündigt Rücktritt an

Nicht verhindern konnte Johnson, dass ein in der vergangenen Woche im Eiltempo durch beide Kammern des Parlaments gepeitschtes Gesetz gegen einen ungeregelten EU-Austritt in Kraft trat.

John Bercow – der Präsident des Unterhauses, der in Grossbritannien Sprecher genannt wird – kündigte indes an, spätestens zum 31. Oktober von seinem Amt zurückzutreten. «Während meiner Zeit als Sprecher habe ich versucht, die relative Autorität dieses Parlaments zu erhöhen, wofür ich mich absolut bei niemandem, nirgendwo, zu keiner Zeit entschuldigen werde», sagte Bercow in einer emotionalen Ansprache. Viele Abgeordneten würdigten ihn mit langem Applaus, in der Regierungsfraktion war der Zuspruch eher verhalten.

Bercow hatte im Brexit-Machtkampf zwischen der Regierung und dem Parlament eine herausragende Rolle gespielt. Erst vergangene Woche ermöglichte er der Opposition und Rebellen aus der Tory-Fraktion, ein Gesetzgebungsverfahren gegen den Willen der Regierung einzuleiten. Bercow wird daher vorgeworfen, zugunsten der proeuropäischen Abgeordneten eingegriffen zu haben. Er bestreitet das.

Auch Rücktritt Johnsons denkbar

Das nun in Kraft getretene Gesetz gegen den No-Deal-Brexit sieht vor, dass der Premier eine Verlängerung der am 31. Oktober auslaufenden Brexit-Frist beantragen muss, wenn bis zum 19. Oktober kein Austrittsabkommen ratifiziert ist. Johnson lehnt eine Verlängerung ab; lieber wolle er «tot im Graben» liegen. Wie er das Gesetz umgehen will, ohne doch noch ein Abkommen mit der EU zu treffen, ist unklar. Spekulationen zufolge will die Regierung versuchen, ein Schlupfloch zu finden. Denkbar wäre auch ein Rücktritt Johnsons.

Ebenfalls zu umgehen versuchen dürfte die Regierung die Forderung des Unterhauses nach Herausgabe von Dokumenten über die Planungen für einen No-Deal-Brexit und die Zwangspause des Parlaments. Der Beschluss wurde mit 311 zu 302 Stimmen angenommen. Kritiker werfen Johnson vor, die Parlamentspause taktisch eingesetzt zu haben, um die Handlungsfähigkeit der Abgeordneten vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober einzuschränken. Nun wollen sie die Kommunikation von Regierungsmitarbeitern vor der Entscheidung sehen, bis hin zu privaten E-Mails und Nachrichten aus Kurznachrichtendiensten.

Auch die Planungen für einen ungeregelten Brexit in der «Operation Yellowhammer» sollen nach dem Willen der Parlamentarier bis zum 11. September offengelegt werden. Einzelne an die Presse durchgesickerte Dokumente legen nahe, dass die Regierung die befürchteten Konsequenzen eines EU-Austritts ohne Abkommen herunterspielt. Direkte Zwangsmittel, um seine Forderung durchzusetzen, hat das in den kommenden fünf Wochen suspendierte Unterhaus jedoch nicht.

«Instrument der Einkerkerung»

Bei einem Besuch in Irland sagte Johnson am Montag ausdrücklich, dass er einen geregelten Brexit seines Landes zum 31. Oktober wolle. «Ich will einen Deal erreichen», sagte Johnson bei dem Treffen mit seinem irischen Kollegen Leo Varadkar in Dublin. Dies solle ohne die Einrichtung einer festen Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland möglich sein. Wie das umgesetzt werden soll, verriet Johnson allerdings nicht. Varadkar zufolge sind bisher keine Vorschläge aus London eingegangen.

Brüssel und Dublin fordern eine Garantie dafür, dass Kontrollposten an der Grenze zu Nordirland nach dem Brexit vermieden werden. Denn das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren. Bis eine andere Lösung gefunden wird, sollen für Nordirland weiter einige Regeln des Binnenmarkts gelten und ganz Grossbritannien in der Europäischen Zollunion bleiben.

Diese «Backstop» genannte Lösung lehnt Johnson jedoch strikt ab. Er sieht in der Klausel ein «Instrument der Einkerkerung» Grossbritanniens im Orbit der EU. Varadkar betonte jedoch am Montag: «Für uns gibt es keinen Deal ohne Backstop.»

Sprengsatz «Neuer IRA» zuzuordnen

Der irische Regierungschef warnte, ein EU-Austritt Grossbritanniens ohne Abkommen sei alles andere als ein «klarer Bruch». Was auch immer passiere – beide Seiten müssten schnell wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. «Die ersten Punkte auf der Tagesordnung werden sein: Rechte von Bürgern, ein finanzieller Ausgleich und die irische Grenze», sagte Varadkar. Für alle diese Punkte seien im Austrittsabkommen, das Johnsons Vorgängerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hatte, Lösungen gefunden worden.

Die Polizei in Nordirland teilte indes mit, ein am Samstag in einem Grenzort gefundener Sprengsatz sei der katholisch-republikanischen Splittergruppe «Neue IRA» zuzuordnen. Nach Angaben der Ermittler sollte die funktionsfähige Mörsergranate wohl auf ein Polizeirevier abgefeuert werden, der Granatwerfer habe aber vermutlich versagt. Gefunden wurde sie auf einer Mauer nahe der Polizeidienststelle. Sie konnte entschärft werden. Verletzt wurde niemand. Ähnliche Vorfälle hatte es in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach gegeben.

Aus dem Europaparlament kommt heftige Kritik am Brexit-Kurs Johnsons. Er versuche, aus einem konstruierten Konflikt zwischen dem britischen Parlament und den Menschen politisches Kapital zu schlagen, sagte die Grünen-Abgeordnete Terry Reintke der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel. «Diese demagogische Hetze destabilisiert das gesamte demokratische System Grossbritanniens.» Reintke plädierte für einen weiteren Aufschub des Brexits, wenn die Briten dies beantragten.

EU-Chefunterhändler informiert am Donnerstag

Auch der deutsche CDU-Europaabgeordnete David McAllister äusserte sich höchst besorgt. «Die politische Lage auf der Insel ist derzeit so angespannt wie nie zuvor, der Machtkampf zwischen dem britischen Unterhaus und dem Premierminister nimmt neue Dimensionen an», erklärte der Chef des Auswärtigen Ausschusses der dpa.

EU-Abgeordnete wollen sich am Mittwoch auf den Entwurf einer Brexit-Resolution verständigen und diese nächste Woche verabschieden. Am Donnerstag informiert EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Fraktionsvorsitzenden des Parlaments über den Stand der Gespräche mit London.



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