Lagebild Ukraine «90 Prozent nehmen noch gar nicht am Kampf teil»

Von Philipp Dahm

29.6.2023

Ukraine will Waffen künftig komplett selbst produzieren

Ukraine will Waffen künftig komplett selbst produzieren

Die von Russland angegriffene Ukraine will ihre Waffen und Rüstungsgüter nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj künftig komplett selbst produzieren. «Unsere Soldaten werden immer Waffen haben», sagte Selenskyj zum Tag der ukrainischen Verfassung am 28. Juni im Parlament.

29.06.2023

Scheitert die ukrainische Gegenoffensive? Ben Hodges winkt ab: Es sei viel zu früh, um zu urteilen, meint der frühere US-General. Das Gros der ukrainischen Streitkräfte sei noch gar nicht involviert.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der frühere US-General Ben Hodges hält es für «Unsinn», die ukrainische Gegenoffensive abzuschreiben.
  • 90 Prozent der ukrainischen Streitkräfte nähmen noch gar nicht am Kampf teil, so Hodges. Der «Haupt-Angriff» stehe noch aus.
  • In dieser Phase sei es wichtig, dass sich die Kriegsparteien schnell auf neue Begebenheiten einstellen können.
  • Walerij Saluschnyj, der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, spricht von Fortschritten, beklagt aber den massenhaften Einsatz von Minen.
  • Die ukrainische Armee kommt bei Bachmut derzeit schneller voran als im Süden.

Wie läuft die ukrainische Gegenoffensive? Ein Blick auf die Karte von Deep State zeigt, wie zäh der Kampf ist. Die grün gehaltenen Gebiete sind vor über zwei Wochen erobert worden, die blauen Areale sind die jüngeren Vorstösse.

Klar ist, dass die ukrainischen Vorstösse die hier in Schwarz eingezeichneten Verteidigungslinien der Russen noch gar nicht erreicht haben. Und: Im Süden sind die Befestigungen sehr viel stärker als im Donbass.

Doch Sorgen machen muss man sich um Kiews Kräfte deshalb nicht, glaubt Ben Hodges. «Wir sollten annehmen, dass es immer eine zwei, drei oder sogar fünftägige Verspätung bei den Informationen gibt», gibt der frühere US-Generalleutnant bei «Newsweek» zu bedenken.

Walerij Saluschnyj, der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, sei «von Anfang an sehr diszipliniert» gewesen, was den Informationsfluss angeht, weiss der 65-jährige Ex-Militär. «Wenn ich also Berichte lese, [die Gegenoffensive] sei ein Reinfall, ist das kompletter Unsinn. 90 Prozent der ukrainischen Armee nehmen noch gar nicht am Kampf teil.»

«Haupt-Angriff» steht offenbar noch aus

Worauf es jetzt ankommt? Darauf, «wer sich am schnellsten anpasst», erklärt der frühere Oberkommandierende der US Army Europe. Die Ukraine sei bisher sehr gut darin gewesen, aus den jeweiligen Situationen zu lernen. «Und darum geht es in dieser ersten Phase der Offensive.» Der «Haupt-Angriff» stehe noch aus. «Sie warten darauf, dass Risse sichtbar werden.»

Saluschnyj selbst teilt auf Telegram mit, er habe mit dem US-General Mark Milley telefoniert: «Es ist uns gelungen, die strategische Initiative zu ergreifen», schreibt er. «Wir machen Fortschritte. Der Feind leistet starken Widerstand, erleidet aber gleichzeitig schwere Verluste. Sie versuchen, ihre Stellungen zu halten, indem sie das Gebiet ständig verminen.»

Dass Saluschnyj ein anderes Kaliber ist als sein Gegenspieler Waleri Gerassimow, zeigt der obige Facebook-Post eines Oberstabsfeldwebels der 47. Mechanisierten Brigade, die in Saporischschja kämpft. «Wir hatten gestern 24 Stunden Angriff», schreibt Waleri «Mahura» Markus. «Wir sind sehr weit, sehr tief vorgerückt. Zu Fuss, deshalb sind wir alle müde.»

Saluschnyjs gut gemeinte Drohung

Das Video filmt er in einem Graben, den sie erobert und in dem sie die Nacht auf den Leichen ihrer Gegner verbracht hätten. «Es ist offensichtlich, dass es nicht schnell gehen wird, weil ihre Verteidigung sehr kompakt und gut gebaut ist.» Saluschnyj höchstpersönlich kommentiert: «Waleri! Zieh sofort deine Schutzweste an, oder ich werde dir eine Lektion erteilen!»

Kommen wir zu den Veränderungen an der Front – und bleiben im Süden: Wie die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin auf Telegram mitteilt, hätten Kiews Truppen dort 1,3 Kilometer Boden gutgemacht. Wo genau, verrät Hanna Maliar nicht. Von den Spezialkräften, die bei Oleschky über den Dnjepr gesetzt haben, gibt es keine Neuigkeiten.

Die Überquerung des Flusses dürfte aber nicht die letzte gewesen sein, glauben Sicherheitsexperten wie der Australier Chris Flaherty: Der rechnet in den kommenden Wochen mit weiteren Versuchen, der russischen Verteidigung in die Flanke zu fallen.

«Heftige Kämpfe» bei Bachmut

Was sagt Hanna Maliar zum Frontverlauf im Osten? «Generell ist die Lage im Sektor Bachmut wieder heiss», schreibt die Ministerin, «und es finden heftige Kämpfe statt. Der Feind zieht seine Reserven zusammen und klammert sich mit aller Kraft an Bachmut.»

Bei Klischtschijiwka ist die ukrainische Armee demnach 1,2 Kilometer vorgerückt. Das Dorf liegt gut drei Kilometer südlich von Bachmut. Bei Kurdjumiwka, das knapp zehn Kilometer südlich von Bachmut liegt, sollen es 1,5 Kilometer gewesen sein.

Im obigen Video zeichnet «Reporting from Ukraine» nach, wie die ukrainischen Streitkräfte versuchen, Klischtschijiwka möglichst von der Seite anzugreifen und wie wichtig das Räumen von Minen geworden ist.

Waffen-Update

Wie «Defence 24» berichtet, verhandelt Kiew mit Warschau über die Lieferung von Seezielraketen, die den Küstenschutz verbessern sollen. Es handelt sich dabei um Flugkörper des norwegischen Herstellers Kongsberg, die eine Reichweite von mehr als 200 Kilometer haben. Polen verfügt über zwei Einheiten, die jeweils zwei Batterien mit je drei Starter, für vier Raketen haben.

Weiterhin soll Kiew noch in diesem Jahr zwei Flugabwehr-Systeme vom Typ Skynex erhalten, wie Rheinmetall mitteilt. Zu jedem System vier Kanonen, ein Kontrollzentrum und ein Radar.