Viele offene Fragen in Russland Fünf Punkte, die beim Moskauer Terroranschlag stutzig machen

Von Philipp Dahm

25.3.2024

Mindestens 137 Menschen sind tot – und die vier Täter, die mutmasslich dahinterstecken sollen, gefasst. Doch die ersten Ermittlungsergebnisse werfen ebenso Fragen auf wie die Reaktion des Kremls.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Über die vier mutmasslichen Täter, die am 22. März in einer Konzerthalle in Krasnogorsk 137 Menschen getötet haben sollen, sind nun Details bekannt – siehe obige Bildstrecke.
  • Es bleiben aber viele Fragen offen: Wo haben die Täter die AK-103-Sturmgewehre her, die angeblich benutzt worden sind?
  • Die Polizei ist keine drei Kilometer vom Konzertsaal entfernt stationiert: Wieso brauchte sie so lange, um zum Tatort zu kommen?
  • Warum sind die mutmasslichen Täter in Richtung der ukrainischen Grenze geflohen, wo so viele Soldaten und Polizisten unterwegs waren?
  • Warum hat Wladimir Putin Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag des «Islamischen Staates Chorasan» (IS-K) ignoriert?
  • Warum hat der Kreml trotz IS-Bekennerschreiben und -video eine Medienweisung herausgegeben, dass die Ukraine hinter dem Anschlag stecken soll?

Der Terroranschlag auf die Crocus City Hall in Krasnogorsk wirkt nach. Die Attacke auf die Konzerthalle am 22. März fordert mindestens 137 Opfer – darunter auch drei Kinder. Mindestens 182 Personen wurden verletzt.

Immer noch werden 97 Verletzte in Spitälern behandelt: Wie die Leiterin der Gesundheitsverwaltung im Gebiet Moskau, Ljudmila Bolatajewa, heute mitteilt, seien die Patientinnen und Patienten über Kliniken der Hauptstadt und des Moskauer Gebiets verteilt. Die erlittenen Verletzungen seien unterschiedlich schwer.

Russlands Präsident Wladimir Putin will mit Blick auf den Anschlag heute über weitere Massnahmen beraten. Gegen Abend sei ein Treffen unter anderem mit Vertretern aus Sicherheitsstrukturen und anderen staatlichen Bereichen angesetzt, kündigt Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge an. Es solle dabei auch um die Frage gehen, mit welchen Leistungen Opfer und ihre Angehörigen unterstützt werden können.

Drei Tage nach dem Terroranschlag bleiben jedoch viele Fragen offen – auch wenn die russische Justiz vier mutmassliche Täter dem Richter vorgeführt hat, gegen die Haftbefehle erlassen worden sind. Welche fünf Aspekte problematisch sind, liest du im Folgenden nach.

Woher kamen die Waffen?

Die Terroristen hatten vier Kalaschnikow-Sturmgewehre und über 500 Schuss dabei. Es soll sich um die AK-103 handeln, die in Russland bisher nur vom Innenministerium und den Speznas-Spezialeinheiten des Militärnachrichtendienstes GRU verwendet wird. Wenn das zutrifft, stellt sich die Frage, wie die mutmasslichen Terroristen in ihren Besitz gekommen sind.

Wieso war die Polizei erst so spät am Tatort?

Je nach Quelle hat es 40 Minuten, 60 Minuten oder gar 77 Minuten gedauert, bis die Einsatzkräfte vor Ort waren, nachdem die Terroristen um 19.55 Uhr Ortszeit in die Konzerthalle eingedrungen waren. Dabei ist das Hauptquartier der Sondereinheit Omon weniger als drei Kilometer von der Crocus City Hall entfernt.

Die Feuerwehr war eher vor Ort, konnte aber wegen fehlenden Polizeischutzes nicht mit dem Löschen beginnen und musste einen Helikopter aufbieten, um zumindest von oben anzufangen, den Brand zu bekämpfen.

Was wollten die mutmasslichen Täter im Westen?

Die vier mutmasslichen Täter sollen in dem Dorf Chatsun im Oblast Brjansk geschnappt worden sein. Es liegt weniger als 110 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.

Lage des Dorfes Chatsun in Russland.
Lage des Dorfes Chatsun in Russland.
Bild: Google Earth

Nach russischer Darstellung wollten die mutmasslichen Täter in die Ukraine fliehen und seien mithilfe von Agenten aus Belarus dingfest gemacht worden.

Doch dieser Fluchtweg passt einfach nicht ins Bild. Denn an der Grenze zur Ukraine wimmelt es von Uniformierten – und je weiter die Gruppe nach Westen gekommen wäre, desto grösser wäre die Wahrscheinlichkeit, an einer Strassensperre rausgewinkt und kontrolliert zu werden.

Warum hat Putin Warnungen nicht ernst genommen?

Beim IS-K steht das K für die historische Provinz Chorasan, die Teile des Irans und Afghanistans umfasst. Die Fanatiker kämpfen einerseits gegen Gruppen wie die Taliban, aber auch gegen «imperiale Grossmächte» wie die USA, China und eben Russland. 

Schon im September 2022 warnt «The Diplomat», ISIS-K habe Moskau ins Visier genommen, nachdem ein Bombenattentat auf die Botschaft in Kabul verübt worden ist. Die Bewegung sei «vehement antirussisch in ihrer Orientierung», hiess es damals. Grund ist die Kremlpolitik in Syrien, Afghanistan und Tschetschenien.

Ein Mitglied der Nationalgarde am 22. März vor der brennenden Konzerthalle.
Ein Mitglied der Nationalgarde am 22. März vor der brennenden Konzerthalle.
Bild: Keystone

Ende vergangenen Jahres verstärkte die Gruppe ihre Aktivitäten in Europa. Im Dezember wurde in Wien ein Teenager mit Wurzeln in Tadschikistan verhaftet, der angeblich einen Anschlag auf eine Synagoge geplant hatte. Kurz darauf klickten in Deutschland die Handschellen: Ein Tadschike und weitere Verdächtige wurden festgenommen, die Attentate geplant haben sollen.

Zuletzt warnten die USA am 7. März US-Bürger in Russland, sie sollten Menschenmengen meiden. Wladimir Putin hat das Ganze als westliche Propaganda abgetan, die seinem Land schaden solle. Dass der 71-Jährige nun dafür kritisiert werden wird, ist indes nicht zu erwarten.

Warum nimmt Moskau trotz IS-Bekenntnis Kiew ins Visier?

Dass Moskau Kiew die Schuld an dem Terroranschlag in die Schuhe schieben will, zeigt sich schon einen Tag später: Da ergeht laut «Meduza» die Weisung an russische Medien, die Ukraine mit der brutalen Attacke in Verbindung zu bringen.

Dem folgen viele russische Medien auch. Flankiert werden die Anschuldigungen mit Vorwürfen, die USA und Grossbritannien hätten Kiew dabei unterstützt.