Mut zum Stillstand Selbstoptimierung vs. Virus – es droht ein dickes Ende

Von Andreas Fischer

7.4.2020

Der Gemütlichkeit einfach mal eine Chance geben wie der Bär Balu in «Das Dschungelbuch»? Das ist in der selbstoptimierenden Gesellschaft nicht vorgesehen – auch nicht im Coronavirus-Lockdown.
Der Gemütlichkeit einfach mal eine Chance geben wie der Bär Balu in «Das Dschungelbuch»? Das ist in der selbstoptimierenden Gesellschaft nicht vorgesehen – auch nicht im Coronavirus-Lockdown.
Disney

Länger joggen, Yoga per Video, eine Fremdsprache lernen: Die Sache mit der Selbstoptimierung muss natürlich auch im Corona-Lockdown laufen. Egal, was es kostet.

Und warum darf die Krise nicht einfach nur Krise sein? Warum bekommt man ein schlechtes Gewissen eingetwittert, wenn man deswegen mal schlecht drauf ist? Schliesslich ist die Situation besch ... eiden: 24/7 zu Hause. Mit Partner/in. Mit Kind(ern). Mit Arbeit. Da darf man auch mal übellaunig sein. Oder?

Denkste. Wenn man sich so umschaut auf Twitter und Instagram, bei Facebook und in den eigenen WhatsApp-Gruppen, dann sieht man vor allem, was man jetzt alles machen könnte, wie fit man sich jetzt hält, was man an versäumter Kultur nachholen muss oder Gesundes zu essen kochen kann. Man habe ja Zeit im Lockdown, weil sonst nicht viel zu tun.



Das ist gelinde gesagt: völliger Quatsch. Nur weil man nichts zu tun hat, muss man doch nicht gleich wieder anfangen, ganz viel zu tun. Oder, wie es Unternehmensberater Christoph Magnussen in einem Interview mit der «Wirtschaftswoche» ausdrückt: «Wir sollten gütig mit uns selbst sein. Jetzt ist nicht die Zeit für Selbstoptimierung.»

Der Bär Balu hat in «Das Dschungelbuch» einmal ein sehr schönes Lied darüber gesungen, wie das so ist mit dem Faulenzen: «Probier's mal mit Gemütlichkeit» ist eine Ode an die Entspannung, an den Müssiggang, an die gute alte Tugend des Nichtstuns. Nur sind wir heute weit davon entfernt, uns wie das Menschenkind Mogli darauf einzulassen.

Wenn eine deutsche Schauspielerin, Palina Rojinski, öffentlich äussert: «Diese ganze Selbstoptimierung in den sozialen Netzwerken geht mir auf die Nerven», dann läuft die Meldung bei jedem Medium im Newsticker so selbstverständlich ein, als wäre sie die wichtigste der Welt. Einfach nur, weil Rojinski das macht, was viele verlernt haben: «Ich faulenze auch ganz bewusst.»

Leben im Komparativ

Dieser intrinsische Ansatz ist bemerkenswert, umso mehr, als dass wir auch ohne Coronakrise in einer Zeit leben, deren wichtigster Reflex die Selbstoptimierung ist. Man kann, ja muss immer etwas verbessern in seinem Leben. Und sei es nur, um in den sozialen Netzwerken ein vorteilhaftes Selbstbildnis in die Welt schicken zu können.

In einem lesenswerten «Spiegel»-Artikel erklärt Psychoanalytiker Hans Jürgen Wirth, warum wir ein «Leben im Komparativ» führen. «Die Selbstoptimierung», schreibt er, «ist Teil unserer Leitkultur».

Es ist in der Tat sehr verführerisch, sich selbst zu perfektionieren, wenn man sich immerzu vergleichen kann. Mit überall verfügbaren Normen, mit Freunden in sozialen Netzwerken, mit den Vorgaben aus Selbsthilfebüchern. Wir können mit Apps unseren Schlaf überwachen, teilen die täglich absolvierten Schritte, posten stolz unsere Joggingrouten.

Das darf in der Coronakrise natürlich nicht einfach so enden. Ersatz muss her. Also machen wir Fitnesskurse eben per Video, oder wir lernen Japanisch, lesen plötzlich Bücher, die wir jahrelang im Regal verstauben liessen und gehen virtuell ins Museum. Hauptsache kein Stillstand.

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Es droht ein dickes Ende

Gesund ist das nicht. «Im Extremfall handelt es sich um eine Selbstinstrumentalisierung – man macht sich zum Objekt der Self-Tracking-Apps und unterwirft sich deren versteckten Wertungen, ohne die damit verbundene Selbstentmündigung zu erkennen», schreibt Wirth.

Dass die Pandemie ein «kollektiver wie auch individueller Kontrollverlust» ist, können wir nicht akzeptieren. Das Leben in einer «Welt- und Selbstkrise» ist unvorstellbar. Dabei ist es unglaublich wichtig. Weil wir uns bewusst machen können, dass wir – egal wie aktiv wir sind — manchmal passiv Dinge ertragen müssen.

Tun wir das nicht, gibt's die grosse Überraschung zum Schluss. Wenn wir nämlich am dicken Ende feststellen, dass wir – ganz profan – sterblich sind. Da können wir vorher noch so viele Runtastic-Läufe geteilt, Online-Yoga-Kurse absolviert und Fremdsprachen gelernt haben.

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