AntisemitismusWie sicher fühlt man sich mit einer Kippa auf Schweizer Strassen?
Joëlle Weil
7.5.2018
In Berlin sollen Juden aus Sicherheitsgründen keine Kippa mehr in der Öffentlichkeit tragen. Wie geht es damit den Juden in der Schweiz? Zieht sich die Angst von Antisemitismus auf offener Strasse bis hin zu uns? Wir haben nachgefragt.
Die Situation unter den Juden in Deutschland ist nachhaltig angespannt: Die Vorkommnisse antisemitischer Attacken und Beschimpfungen auf deutschen Strasse häufen sich und seitdem der Präsident des Zentralrat der Juden in Deutschland, Josef Schuster, öffentlich dazu geraten hat, man solle in Berlin in der Öffentlichkeit keine Kippa mehr tragen, verstärkt sich das ungute Gefühl in der jüdischen Gemeinschaft in der Hauptstadt und im ganzen Land.
In Deutschland wird die Thematik durchgehend diskutiert, sei es in den Medien, im Bundestag und unter der jüdischen Bevölkerung selbst. Es drängt sich daher die Frage auf, ob es sich hierbei um ein «deutsches Problem» handelt, oder ob auch die Juden in der Schweiz von diesem zunehmenden «Strassenantisemitismus» betroffen sind.
«Die Kippa ist ein Teil von mir»
Über 20'000 Schweizer sind jüdisch und unter ihnen gibt es so einige, die sich tagtäglich durch das Tragen einer Kippa als solche erkennbar machen. Einer von ihnen ist Dan Pruschy (27) aus Zürich: «Ich trage meine Kippa, weil sie ein Teil von mir ist und weil ich sie schon immer getragen habe», sagt er gegenüber «Bluewin». «Sie hilft mir, mich täglich meiner Religion und jüdischer Identität zu besinnen. Sie gehört zu mir.»
Auf seine Kippa in der Schweiz zu verzichten, käme für ihn nicht in Frage, denn trotz all dem, was rundherum passiert, sagt Pruschy: «Ich fühle mich hierzulande zu 100 Prozent wohl, wenn ich erkennbar als Jude durch die Strassen gehe.» Ein so direkter und primitiver Antisemitismus, wie er derzeit in Deutschland zu finden ist, stelle er in der Schweiz nicht fest.
Das letzte Mal, so erzählt er, sei er vor ungefähr vier Jahren als «Scheissjude» aus einem vorbeifahrenden Auto aus beschimpft worden. Das sei ein Einzelfall gewesen.
Generell gehe man in der Schweiz respektvoll mit ihm um, stellt Fragen und zeigt Neugier. Und auch wenn die ständige Fragerei manchmal lästig ist, so sagt Pruschy: «Man soll lieber einmal zu oft, als zu wenig fragen.»
«In Luzern oder Aarau schaut man eher hinterher»
Auch Uri Rothschild (34) ist als Jude erkennbar, wenn der gebürtige Basler durch seine Wahlheimat Zürich spaziert. «Im Grossraum Zürich oder auch in Basel fühle ich mich sehr sicher, wenn ich meine Kippa trage. Ich stelle fest: Je mehr Juden in einer gewissen Region leben, desto eher ist man sich den Anblick auch gewohnt. In Luzern oder Aarau schaut man mir tendenziell eher hinterher.»
Dies falle ihm selbst jedoch weniger auf, als den Menschen, die ihn dann begleiten. «Man muss mich schon anstarren, bis es mir auffallen würde. Ich bin mir meine Kippa natürlich nicht jeden Moment bewusst, sodass ich Blicke nicht automatisch darauf zurückführe.»
Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund «SIG», der jährlich den Antisemitismusreport verfasst, gibt Pruschy und Rothschild in ihrem Empfinden Recht: «Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass es hier eine Zunahme von Vorfällen gab», sagt «SIG»-Generalsekretär Jonathan Kreutner. «Im Vergleich zu anderen Ländern können wir glücklicherweise feststellen, dass es hier in der Schweiz zu weniger schwerwiegenden antisemitischen Vorfällen kommt.
Das heisst aber nicht, dass wir in der Schweiz von Antisemitismus verschont würden.» Neben 39 gemeldeten physischen Übergriffen im letzten Jahr stellt der «SIG» dafür einen Anstieg antisemitischer Hetze im Internet fest. «Das bereitet uns Sorgen.»
«In Genf und Lausanne ziehe ich sie hin und wieder aus»
Auch für Uri Rothschild ist klar: Nur weil er von antisemitischen Übergriffen verschont bleibe, bedeutet das nicht, dass Antisemitismus in der Schweiz nicht existiert. Es gibt hierbei Präventivmassnahmen, die er trifft, um potenzielle Vorfälle zu vermeiden. Wenn er weiss, dass er sich in einem Umfeld bewegt, in dem erhöhtes Eskalationspotential herrscht, wie beispielsweise in einem Fussballstaion, verzichtet er auf das Tragen seiner die Kippa.
Wer negative Gedanken hege, so Rothschild, liesse sich in diesem Rahmen im Zusammenspiel mit Alkohol eher gehen. Aber auch in der Romandie verzichtet er manchmal auf seine Kippa: «In Genf oder in Lausanne ziehe ich sie hin und wieder aus.» Dazu habe man ihm dort geraten.
Auch Dan Pruschy ist vorsichtiger geworden, vor allem dann, wenn er sich ausserhalb der Schweiz bewegt: «Im Ausland trage ich meine Kippa nicht mehr. Ich lese und höre zu viel und auch Freunde in Deutschland oder sogar in Holland raten mir davon ab. Das deprimiert mich zutiefst.»
Auch in der Schweiz verstecken Juden ihre Kippa
Es besteht kein Zweifel, dass antisemitische Vorfälle gegen Juden häufig mit israelischer Politik zusammenhängen. Einwanderer aus dem arabischen Raum gehören oft zu denjenigen, welche ihrem Ärger und ihrer Abneigung gegenüber Israel auf diese Weise Luft verschaffen. Die Anklagebank lässt sich aber trotz dieser Erkenntnis nicht so leicht füllen.
Antisemitisches Gedankengut liess sich schon immer in allen gesellschaftlichen Schichten finden. Dass man sich in der Schweiz aber mit oder ohne Abneigung generell weitgehend gegenseitig in Ruhe lässt, ist eine Tugend, welche Rothschild und Pruschy den Schweizern hoch anrechnen.
Der «SIG» sieht der Thematik etwas kritischer entgegen: «Die Zahl der schwerwiegenden Übergriffe ist tatsächlich tiefer in der Schweiz, was natürlich ein gewisses Sicherheitsgefühl vermittelt. Es ist aber Realität, dass viele Juden auch in der Schweiz in der Öffentlichkeit die Kippa verstecken oder gar darauf verzichten diese zu tragen.»
Generell in der Schweiz auf ihre Kippa zu verzichten, kommt derzeit jedoch weder für Pruschy noch für Rothschild in Frage. Es ginge dabei nicht darum, stur etwas durchzuboxen oder gar aufzufallen, sagt Rothschild. Viel mehr ginge es darum, die Freiheit zu geniessen, seine Kultur und Identität offen ausleben zu dürfen.
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