KolumneTessin – ein Plädoyer gegen Klischees, Palmen und Polenta
Von Caroline Fink
12.10.2020
Dass es im Tessin Palmen und Polenta gibt, stimmt. Doch was zählt, ist anderes: Im Tessin existiert Wildnis, Kinder erhalten weniger Ritalin und Alte gehen in die Bar. Ein Plädoyer gegen Klischees.
Kürzlich besuchte ich Ascona. Milde Herbstsonne an der Seepromenade und das Plätschern des Lago Maggiore – so stellte ich mir das vor. Doch ganz ehrlich: Ascona gefiel mir nicht.
Die Gassen, die Flaniermeile am See, ja selbst der Ossobuco im Restaurant – alles fühlte sich künstlich an. Gerade so, als wollte jemand das Tessin imitieren, um eine Kulisse für uns Deutschschweizer zu erschaffen: Polenta und Palmen, un po di Sonnenschein und Vino im Boccalino. Klischees in Reinform wie Nella Martinetti sie einst in «Canta Ticino» besang.
Ich mag das Tessin. Ich besuche es oft und habe Tessiner Freundinnen und Freunde. Und ja, es stimmt, das Tessin ist anders. Aber eben: Es ist anders anders, als wir Deutschschweizer es uns vorstellen.
Ein Bergkanton
Allem voran ist das Tessin für mich ein Bergkanton. Was auch private Gründe hat: Ich mag Bergsport und im Tessin steht nun mal der mitunter beste Fels der Schweiz. Übrigens gleich oberhalb von Ascona im Klettergarten Baladrüm. Oder in den Kalkzähnen der Denti della Vecchia bei Lugano.
Ausserdem lassen sich im schneereichen Val Bedretto prima Skitouren machen und wer einsame Wanderungen sucht, findet nirgends so viel Wildnis wie im Südkanton: Wälder, wild und steil, Flüsse, die durch Schluchten donnern, unbewohnte Täler, in denen nur der kalte Nordwind über die Gipfel bläst.
Doch noch spannender als die Landschaften finde ich im Tessin anderes. Etwa, dass Tessiner Kinder weniger Ritalin verschrieben erhalten als ihre Deutschschweizer Gspänli. Oder dass man noch zusammen singt und Dorffeste feiert. Und in unbewarteten Berghütten weder Wein aus dem Selbstbedienungskasten geklaut, noch illegal gratis übernachtet wird – etwas, worüber sich Deutschschweizer Hüttenverantwortliche ständig beklagen.
«Uela, vett ben?»
Woran das liegt? Ich kann nur mutmassen:
Vielleicht an der Seele des Tessins? Jener Seele, die ich in der Volksmusik der Band Vox Blenii spüre. Oder im Buch «Nicht Anfang und nicht Ende», wenn Plinio Martini von emigrierten Tessinern in Amerika schreibt, die zeitlebens das Val Bavona vermissten.
Eine alte Volksseele, die ich auch im Tessiner Dialekt höre. Diesem lombardischen Sprachjuwel, das noch 40 Prozent der Tessiner sprechen. In dem Buben und Mädchen «fiöö e tusán» sind, das Herz «cör» heisst und man sich mit «Uela, vett ben?» – hallo, wie geht's? – begrüsst.
Es ist dieses Tessin, das ich mag. Und das wir wiederfanden, sobald wir Ascona verlassen hatten. Etwa eingangs Maggiatal, wo der Fluss sich mit Urkraft eine Schlucht in die Felsen gefressen hat. Oder im Dorf Avegno, in dessen Bar Grossmütter, Bauarbeiter und Jugendliche gleichermassen einkehren. Und wo die Kellnerin, die ein wenig an «Saturday Night Fever» erinnerte, uns die besten Brioches mit Aprikosenfüllung und Espresso servierte.
Deshalb empfehle ich Ihnen: Fahren Sie ins Tessin und machen Sie eine Reise anstatt Ferien. Vergessen Sie Pizze und Piazze und entdecken Sie die wahre Seele der südlichen Schweiz.
In dem Sinn: Auf bald im anders anderen Tessin! Sa védum! Wir sehen uns!
Zur Autorin:Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Selbst Bergsteigerin mit einem Flair für Reisen abseits üblicher Pfade greift sie in ihren Arbeiten Themen auf, die ihr während Streifzügen in den Alpen, den Bergen der Welt und auf Reisen begegnen. Denn von einem ist sie überzeugt: Nur was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren.
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