Bötschi fragt Andriy Dragan«Wie beim Fussball steckt auch beim Klavierspielen viel Disziplin dahinter»
Bruno Bötschi
29.6.2024
Andriy Dragan und seine Liebe für die Kompositionen von Franz Xaver Mozart
Andriy Dragan ist ukrainisch-schweizerischer Doppelbürger. Der Pianist lebt seit 20 Jahren in Basel. Bereits in jungen Jahren fühlte sich der 38-Jährige zu den Kompositionen von Franz Xaver Mozart hingezogen.
28.06.2024
Andriy Dragan ist ukrainisch-schweizerischer Doppelbürger. Der Pianist lebt seit 20 Jahren in Basel. Ein Gespräch über Klaviermusik, die Präsenz des Krieges und das seltsame Gefühl, nicht in der Ukraine zu sein.
Bruno Bötschi
29.06.2024, 23:47
14.07.2024, 12:08
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Mit 17 kam Pianist Andriy Dragan (38) in die Schweiz, um an der Musik-Akademie in Basel zu studieren.
Für den ukrainisch-schweizerischen Doppelbürger ist die Musik seit Kindesbeinen ein wichtiger Bestandteil im Leben.
Seit der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 ist sie auch zu einer Art Trost geworden.
«Aber auch wenn die Welt scheinbar zusammenbricht, ist es wichtig, Inseln zu finden, die es einem erlauben, in einer gewissen Normalität weiterzuleben», sagt Dragan im Gespräch mit blue News.
Andriy Dragan, ich stelle Ihnen in den nächsten 30 Minuten möglichst viele Fragen. Und Sie antworten möglichst kurz und schnell. Wenn Ihnen eine Frage nicht passt, sagen Sie einfach «weiter».
Okay.
Kaffee oder Tee?
Kaffee.
Berg oder Tal?
Berg.
Sonne oder Regen?
Jetzt wird es komplizierter (lacht). Wenn es regnet, fällt es mir leichter, Zeit mit der Musik zu verbringen.
Demnach finden Sie es nicht so schlimm, dass es in diesem Sommer so oft regnet?
Eigentlich nicht.
Für Sie sind Ihre Finger das, was für den französischen Fussballer Kylian Mbappé seine Füsse sind: Das grosse Glück, das Geschenk, mit denen Sie Ihre Kunst ausdrücken.
Wahrscheinlich schon. Aber wie beim Fussball steckt auch beim Klavierspielen viel Arbeit und Disziplin dahinter. Das grösste Geschenk ist für mich, die Zuhörerinnen und Zuhörer mit meiner Musik glücklich zu machen.
Beherrschen Sie neben dem Klavier noch andere Instrumente?
Eine Zeit lang studierte ich an der Hochschule Luzern Dirigieren bei Howard Arman. Später habe ich es auch etwas praktiziert – heute konzentriere ich mich mehr auf das Klavierspielen.
Zum Autor: Bruno Bötschi
blue News
blue News-Redaktor Bruno Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Er stellt ihnen ganz viele Fragen – immer direkt, oft lustig und manchmal auch tiefsinnig. Dabei bleibt bis zur allerletzten Frage immer offen, wo das rasante Pingpong hinführt.
Sind Sie Fussballfan?
Fan wäre übertrieben. Ich schaue mir regelmässig die Höhepunkte der Fussball-EM an. Früher, als ich im Teenageralter noch selber Fussball spielte, war mein Interesse grösser.
Auf welcher Position spielten Sie?
Stürmer – und hin und wieder im Mittelfeld.
Sie sind ukrainisch-schweizerischer Doppelbürger: Für welche Mannschaft schlägt während der Fussball-EM Ihr Herz?
Für beide Mannschaften.
Ihre Schuhgrösse?
42.
Tragen Sie während Ihrer Konzerte immer das gleiche Paar Schuhe?
Meistens. Gute Konzertschuhe begleiten einen Pianisten oft sein Leben lang. Dies hat nicht nur mit deren Beschaffenheit zu tun, sondern auch mit den Emotionen, die damit verbunden sind. Sobald ich meinen Konzertanzug und meine -schuhe trage, komme ich sofort in eine andere Stimmung.
Die deutsche Violinistin Anne-Sophie Mutter trägt ärmellose Kleider, um ihre Geige besser auf der Haut zu spüren. Spielen Sie lieber in T-Shirt oder Anzug Klavier?
Im Anzug.
Wie hoch sind Ihre Hände versichert?
(Lacht) Bisher sind sie noch nicht versichert.
Wie bleiben Ihre Finger beweglich?
Leider habe ich kein Geheimrezept dafür. Übung macht den Meister.
Bis in welches Alter kann man als Pianist immer noch besser werden?
In 20 Jahren kann ich Ihnen diese Frage wahrscheinlich besser beantworten. Ich hoffe einfach, dass meine Karriere als Musiker möglichst lang dauern wird. Es gibt genügend Beispiele von Pianisten, die bis ins hohe Alter grossartige Leistungen vollbracht haben – zum Beispiel Artur Rubinstein.
Sie wuchsen in der ukrainischen Stadt Lwiw auf. 2004 sind Sie mit 17 in die Schweiz gezogen, um an der Musik-Akademie Basel zu studieren.
Ich war auf der Suche nach einer neuen Herausforderung, um mich als Pianist weiterentwickeln zu können. Als 12-Jähriger durfte ich mit dem von Dirigenten Gunhard Mattes gegründeten INSO Lwiw Sinfonieorchester Orchester in der Schweiz als Solist auftreten. Ich kannte das Land also schon ein bisschen. Später besuchte ich einen Meisterkurs von Adrian Oetiker. Er ist Professor an der Musik-Akademie Basel. In der Folge entschied ich mich, mein Studium bei ihm in Basel weiterzuführen. Daraus entstand eine langjährige Zusammenarbeit.
Was sind die grössten Unterschiede zwischen den beiden Städten Lwiw und Basel?
Ach, wo soll ich anfangen?
Vielleicht mit der Architektur.
Die Bauweise von Lwiw hat Ähnlichkeiten mit jener von Wien – was nicht zuletzt damit zu tun hat, weil die Westukraine einst zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehörte. Ich fühle mich beiden Städten tief verbunden, weshalb es mir schwerfällt, sie miteinander zu vergleichen.
Sie waren noch ein Teenager, als Sie ohne Ihre Eltern nach Basel kamen. Hatten Sie Heimweh?
Ich bin ein Mensch, der gerne unterwegs ist. Trotzdem bin ich als junger Erwachsener mehrmals im Jahr zurück in die Ukraine gereist, um dort Konzerte zu spielen und mich mit Familie und Freunden zu treffen.
Welche Erinnerungen haben Sie an den 24. Februar 2022, als die Invasion russischer Truppen in die Ukraine begann?
Zur Zeit der Invasion, die gegen 6 Uhr morgens Schweizer Zeit begann, war ich in Basel und schlief ich tief. Als ich wenig später aufwachte und davon erfuhr, dachte ich, ich sässe in einem Albtraum fest.
Waren Sie seit Beginn des Krieges je wieder in der Ukraine?
Nein.
Fürchten Sie, dass Sie von der Armee eingezogen werden könnten, wenn Sie in die Ukraine reisen würden?
Natürlich fragte ich mich am Anfang der russischen Invasion, wo ich nützlicher sein kann. Soll ich in die Ukraine zurückkehren und für mein Land kämpfen? Oder kann ich auch hier in der Schweiz etwas tun, was meinem Heimatland hilft? Ich entschied mich für Zweiteres.
Was ich dort gesehen und erlebt habe, veränderte mein Leben komplett. Ich sah die Frauen und Kinder an der Grenze, die mit praktisch nichts aus der Ukraine geflohen waren. Ich sah viel Elend, spürte aber gleichzeitig die Wärme der vielen Menschen, die vor Ort helfen wollten.
Was machte das mit Ihnen?
Es waren unglaublich starke Eindrücke. Ich konnte danach kaum mehr schlafen und bin fast zusammengebrochen.
Welche Gedanken haben Sie, wenn Sie heute an die Situation in der Ukraine?
Es ist schrecklich. Ich weiss nicht, wie die Menschen in der Ukraine diesen Krieg aushalten und ihr Leben weiterführen können. Und was ich ganz besonders schlimm finde: Der Krieg wurde Normalität – und niemand weiss, wann dieser Schrecken ein Ende haben wird.
Meine Hoffnung ist, dass die neuen Waffenlieferungen des Westens, als unter anderem die F16-Kampfjets, dafür sorgen werden, dass die Ukraine ihre Grenze in naher Zukunft besser verteidigen kann und so der Druck auf Land und Leute etwas abnimmt. Aber klar ist auch, dass diese Waffen keine Wunder vollbringen können, solange die russische Armee sich nicht zurückziehen respektive die Invasion beenden wird.
Wie regelmässig sind Sie mit Ihrer Familie und Ihren Freunden in Lwiw in Kontakt?
Ich telefoniere jeden Tag mit meinen Eltern. Vorgestern erzählte mir mein Vater, dass in der Nacht davor Drohnen über das Haus geflogen seien. Einen Tag später spielte er zusammen mit einem anderen Musiker ein Konzert in der Philharmonie Lwiw. So ist die dortige Realität.
Wollten Ihre Eltern die Ukraine nicht verlassen?
Lwiw ist ihre Heimat. Lwiw ist ihr Leben. Meine Eltern sind wie ich ausgebildete Pianisten. Sie sind an der Musikhochschule tätig, geben Studenten Klavierunterricht und stehen regelmässig auch auf der Bühne. Meine Eltern wollen ihr Leben nicht aufgeben.
Wann haben Sie Ihre Eltern zum letzten Mal gesehen?
Im vergangenen Jahr besuchen sie mich, als ich am «Zermatt Music Festival & Academy» auftreten durfte. Es war ein besonderer Moment, den ich bis heute im Herzen trage.
Haben Sie Angst, dass sich die Schweizer*innen an die aktuelle Situation gewöhnen und die Solidarität für die Ukraine kleiner werden könnte?
Ich hoffe fest, dass die Ukraine weiterhin unterstützt wird und der Konflikt nicht irgendwann vergessen geht.
Ich bin ein Befürworter dieser Konferenz – auch weil damit meine Hoffnung verbunden war, dass die Lieferung von Unterstützungsmassnahmen für die Ukraine damit beschleunigt wird.
Als Pianist rücken Sie immer wieder vergessene Musik aus Ihrer Heimat ans Tageslicht. Hilft Ihnen, die Musik manchmal für kurze Zeit zu vergessen, was in der Ukraine gerade passiert?
Die Musik wirkt wie eine Therapie. Während des Klavierspielens kann ich mich der Aussenwelt distanzieren und in mein Inneres zurückziehen kann. Musik machen fühlt sich für mich oft wie eine Art Meditation an. In den ersten Monaten nach der russischen Invasion war ich gefühlsmässig aber oft stark blockiert.
Haben Sie trotzdem Musik gemacht und Konzerte gespielt?
Ja. In dieser Zeit habe ich auch immer wieder Benefizkonzerte gespielt. So richtig gut gefühlt beim Musikmachen habe ich mich aber erst wieder, als ich anfing, Musik aus meiner Heimat zu spielen – zum Beispiel die «Schewtschenko-Suite» von Borys Lyatoshynsky (1893 bis 1968).
Was löste das bei Ihnen aus?
Ich spürte plötzlich wieder, wie wichtig die Musik für mein Seelenheil ist. Davor war ich monatelang der Meinung, ich könnte meine Zeit besser einsetzen, als nur Klavier zu spielen. Aber auch wenn die Welt scheinbar zusammenbricht, ist es wichtig, Inseln zu finden, die es einem erlauben, in einer gewissen Normalität weiterzuleben.
Es heisst, Sie seien im Alter von vier Jahren zum ersten Mal an einem Klavier gesessen.
Wahrscheinlich spielte ich schon früher Klavier. Daran kann ich mich aber nicht erinnern.
War es Liebe auf den ersten Blick?
Das Klavier ist seit ich denken kann Teil meines Lebens.
Wenn es Ihnen gut geht und Sie spielen Klavier: Wie fühlt sich das an?
Ich bin nicht Pilot, aber ich kann mir vorstellen, dass die Tätigkeiten Klavier spielen und ein Flugzeug steuern, sich ähnlich anfühlen kann. Während ich am Klavier sitze und Musik mache, passieren viele Dinge im gleichen Moment – und trotzdem darf ich nicht vergessen, immer wieder vorauszuschauen und darauf zu achten, welche Noten als Nächste folgt.
Musikkritiker Christian Berzins schrieb kürzlich in der «Aargauer Zeitung» über Ihre aktuelle CD «Franz Xaver Mozart – The Two. Piano Concerts»: «Eine Aufnahme mit dem Musikkollegium Winterthur und der Leitung des Konzertmeisters Bogdan Božović und des schweizerisch-ukrainischen Pianisten Andriy Dragan lässt nun aber mehr als aufhorchen: prächtig die Sorgfalt, die Detailpracht und der aufblitzende dramatische Furor, der hier drinsteckt.» Was macht so eine liebevolle Kritik mit Ihnen?
Ich war glücklich darüber, dass unsere CD gut ankommt, weil meine Mitmusiker und ich viel Energie und Zeit in dieses Projekt gesteckt haben. Ich bin der Meinung, dass die Musik von Franz Xaver Mozart es verdient, gehört zu werden. Gleichzeitig hoffe ich darauf, dass er künftig nicht mehr nur als Sohn seines berühmten Vaters Wolfgang Amadeus angesehen wird.
Im CD-Booklet schreiben Sie: «Die Musik von Franz Xaver Mozart, dem Sohn von Wolfgang Mozart, berührt meine Seele und inspiriert mich bis heute.» Wie kommt’s?
Ich ahne, warum mich seine Musik derart stark berührt. Ich finde es jedoch nicht in jedem Fall nötig zu wissen, warum mich ein Werk anspricht. Wahrscheinlich mag ich die Musik von Franz Xaver Mozart deshalb so sehr, weil ich mich bereits als Teenager intensiv mit ihr beschäftigt habe. Wir haben seine Stücke auch gespielt, als ich damals mit zwölf Jahren mit dem INSO Lwiw Orchester in der Schweiz als Solist aufgetreten bin.
Gibt es andere Musik oder Komponist*innen, die Ihre Seele berühren?
Das ist wahrscheinlich eine der schwierigsten Fragen, die Sie einem Musiker stellen. Ich kann darauf nur antworten: In dem Moment, in dem ich ein Stück spiele, fühle ich mich mit dem Komponisten verbunden und möchte es nicht mit dem Werk von jemand anderem vergleichen.
Mögen Sie Popmusik?
Ich höre kaum Popmusik.
Warum nicht?
Ich habe Mühe mit dem modernen Musikmarketing. Ich mache Ihnen ein Beispiel: 2022 gewann die ukrainische Kalush Orchestra mit dem Lied «Stefania» den Eurovision Song Contest. Ich mochte den Song. Doch nach dem ESC spielten die Radiostationen «Stefania» so lange rauf und runter, bis ich meine Gefühle für das Lied verloren habe.
Vor einem Auftritt ziehe ich meine Konzertschuhe an und werfe einen letzten Blick in die Noten. Ich weiss nicht, ob man dem Ritual sagen kann.
Was war Ihr bisher schlimmster Moment auf einer Bühne?
Als während eines Konzertes mein Handy, welches ich aus Versehen in der Hosentasche auf die Bühne mitgenommen hatte, anfing zu vibrieren. Zum Glück konnte ich die Stelle des Stückes einhändig spielen. So schaffte ich es, mein Handy auszumachen, bevor der Klingelton anging.
Was in Ihrem Leben ist vergleichbar mit der Leidenschaft für die Musik?
Die Musik hat seit jeher einen besonderen Platz in meinem Leben. Ohne sie könnte ich nicht glücklich sein.
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