Schreibende zum Virus, 2. Teil Rolf Lappert: «Geimpft wird der Mensch sich die Angst aus den Knochen schütteln»

Von Rolf Lappert

27.9.2020

Rolf Lapperts bisher letzter Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» ist im August 2020 im Carl Hanser Verlag, München, erschienen.
Rolf Lapperts bisher letzter Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» ist im August 2020 im Carl Hanser Verlag, München, erschienen.
Bild: Sonja Maria Schobinger Photography

Wird die Coronapandemie unsere Gesellschaft verändern? Und was brauchen wir wirklich zum Leben? Die «blue News»-Redaktion fragte nach bei Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftstellern.

Nachdem wir gestern fünf kürzere Statements von Milena Moser, Andrea Keller, Alain Claude Sulzer, Lukas Linder und Joachim B. Schmidt auf «blue News» publiziert haben, veröffentlichen wir heute eine längere Antwort von Rolf Lappert auf die Frage:

Was brauchen wir wirklich zum Leben?


«Das ist eine Frage von existentiellem Ausmass, im wörtlichen Sinn. Eine rein pragmatische Antwort müsste lauten: Gesundheit, also einen funktionierenden Körper, der uns das Leben überhaupt ermöglicht.

Aber natürlich sind es andere Dinge und Bedingungen, die wir wirklich brauchen, vorausgesetzt, wir sind gesund und können uns auf die Bereiche unseres Daseins konzentrieren, die das Menschliche unserer Gattung ausmachen, das Emotionale, das Streben nach Erfüllung, vielleicht auch das Philosophische, die ewige Suche nach dem Sinn.

Und wann sahen wir uns heftiger und unausweichlicher auf diese Aspekte zurückgeworfen als in diesen unsicheren, verstörenden und bedrohlichen Zeiten, in denen wir uns gerade befinden? Noch vor einem halben Jahr galt ein Grossteil meines Interesses der Arbeit an meinem Roman, und fast meine gesamten Energiereserven flossen in dieses Buch, das Mitte August 2020 erschienen ist.

Während des Schreibens war Covid-19 noch ein Virus in China, mutierte gerade in einer Fledermaus oder einem Gürteltier, auf jeden Fall war es weit weg von meiner Welt, die hauptsächlich aus meinem Arbeitszimmer bestand, aus der Geschichte, die ich auf fast tausend Seiten erzählte.

Zur Person: Rolf Lappert
Rolf Lappert
Bild: Sonja Maria Schobinger Photography

Rolf Lappert wurde am 21. Dezember 1958 in Zürich geboren und wuchs in Olten und Zofingen auf. Er verliess die Schule mit 16, um in Basel für ein Jahr die Kunstgewerbeschule zu besuchen, und machte danach eine Ausbildung zum Grafiker in einer Werbeagentur in Aarau. Von 2000 bis 2011 lebte Rolf Lappert als freier Schriftsteller in Irland, davor in Frankreich und Deutschland. 2011 kehrte er in die Schweiz zurück. 2008 gewann er mit dem Roman «Nach Hause schwimmen» den ersten Schweizer Buchpreis. Sein bisher letzter Roman mit dem Titel «Leben ist ein unregelmässiges Verb» ist im August 2020 im Carl Hanser Verlag, München, erschienen. Rolf Lappert lebt in Zofingen.

Dann, als ich fertig war und das Buch dem Verlag und dem Lektorat übergab, tauchte Corona in den Medien auf, noch immer als unfassbares Phänomen, als weiterer schriller Ton im Lärm des besorgniserregenden Abgesangs auf unsere Welt und unser mehr oder weniger behütetes Leben, das bisher eigentlich ‹nur› vom Klimawandel bedroht war, einem abstrakten Szenario, das uns, so reden wir uns gerne ein, noch nicht wirklich ans Lebendige geht und uns aus unserer Komfortzone scheucht. Noch nicht.

Was blieb ausser Sorge und Verwirrung?

Der Lärm um Corona wuchs mit jeder Woche an, Massnahmen wurden ergriffen, Pressekonferenzen live im Fernsehen gesendet, Tabellen veröffentlicht, Einschränkungen im öffentlichen Leben beschlossen. Was blieb in dieser Ausnahmesituation ausser Sorge und Verwirrung?

Zur Vorsicht neigende Menschen sassen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder vermehrt zu Hause, besannen sich auf die anspruchsvolle Kunst des Allein- oder Zu-zweit-Seins und dachten vielleicht öfter als früher an Verwandte und Freunde, vor allem an die sogenannten Risikopersonen unter ihnen.

Man ging nicht mehr ins Restaurant, traf keine Freunde mehr und kaufte nur noch einmal pro Woche ein, vermied Nähe und Menschenmassen. Man wusch sich die Hände in der Unschuld der Vernunft, rieb sie mehrmals täglich mit Desinfektionsmittel ein und reichte sie niemandem mehr, weder zur Begrüssung noch zum Dank. Als es von oben verordnet wurde, trug man im ÖV Maske und beäugte argwöhnisch die Passagiere, die sich nicht an die neuen Vorschriften halten wollten.

Im Supermarkt machte ich einen Schritt zur Seite, wenn sich jemand vor dem Regal neben mich stellte, war ein Laden voller Menschen, ging ich nicht hinein, später nur noch mit Maske. Ich empfand diese Maske nicht als schikanös oder als Symbol für ein willkürliches, von oben herab verfügtes Gesetz, und zu keinem Zeitpunkt hielt ich es für nötig, gegen das Maskentragen in der Öffentlichkeit zu protestieren, geschweige denn mich mit den abstrusen Gedankengängen diverser ‹Querdenker› näher zu beschäftigen. Die Maske ist lästig, ja, aber sie macht Sinn, zumindest für mich, obwohl oder gerade weil ich keine Ahnung von Viren, Pandemien und sinnvollen, wirksamen Schutzkonzepten habe.

Thun statt Tunesien

Die Frage, die der Auslöser für diesen Text ist, lautet ‹Was brauchen wir wirklich zum Leben?›, und natürlich zielt sie auf unsere Mitte, unser Herz, ja auf unsere Seele.

Sie wird nicht zum ersten Mal gestellt, immer wieder taucht sie auf, vor allem in Zeiten von Krisen und Unsicherheit. Menschen mit Diagnose Krebs stellen sich diese Frage, weil sie zu ergründen versuchen, was wichtig und wertvoll ist, vielleicht weil ihre verbleibende Lebenszeit plötzlich kürzer geworden ist und ein Sinn gefunden werden muss. Ich kenne Menschen mit Burnout-Syndrom, die sich diese Frage stellen, Menschen, die aus dem Hamsterrad des Erwerbslebens geworfen wurden und von der Karriereleiter gefallen sind. Nicht ‹Was will ich?› sucht nach einer Antwort, sondern ‹Was brauche ich?›.

Und jetzt, im Tumult der Krise, wird diese Frage noch ausgedehnt und zur gigantischen Entscheidung der Menschheit aufgebläht, einer Menschheit am Scheitelpunkt zwischen Weiter-wie-zuvor und Neustart beziehungsweise Minimierung unseres Konsums und unserer Ansprüche. Liebe, Freundschaft, Gesundheit, ein Dach über dem Kopf, Essen im Kühlschrank und die finanziellen Mittel, um Krankenkassenbeiträge bezahlen zu können, Steuern und alles andere, was so anfällt.

Kann man hinter alle diese Punkte ein Häkchen setzen, sollte man eigentlich glücklich sein, zumindest zufrieden. Man hat, was man wirklich braucht zum Leben. Ferien, ein tolles Auto, Schränke voller Kleidung, Restaurantbesuche: Nett, wenn man es sich leisten kann – aber wie gross ist der Verlust an Lebensqualität, wenn man darauf verzichten muss?



Zum Beispiel, weil die Flugzeuge am Boden und die Hotels geschlossen bleiben, weil man in Kurzarbeit ist und das neue Auto warten muss, weil man glaubt, für noch schlechtere Zeiten sparen zu müssen und weder shoppen noch auswärts essen geht. Kann man guten Gewissens von Unglück sprechen, wenn man statt nach Tunesien nach Thun und statt nach Bali auf den Ballenberg muss, um die geschundene Seele baumeln zu lassen?

Darf man, ohne sich lächerlich zu machen, depressiv oder beleidigt oder wütend werden, weil man die Pizza zu Hause essen muss und sich nicht beim Italiener verwöhnen lassen kann? Handelt es sich tatsächlich um eine kaum hinzunehmende Einschränkung unseres Lebensstandards, wenn wir uns nicht mehr alljährlich eine Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterkollektion in den Schrank hängen können? Nein, natürlich nicht.

Und auch die Pflicht zum Maskentragen in Bahn, Bus und Tram ist nicht schlimmer als die Pflicht, im Auto Sicherheitsgurte und auf dem Motorrad einen Helm zu tragen. Gurte schützen vor einem Flug durch die Windschutzscheibe, Helme den Kopf samt Hirn, und Masken sorgen dafür, dass wir beim Atmen und Sprechen weniger Viren in die Luft abgeben. Alle drei Vorschriften mögen lästig sein, aber sie sind sinnvoll und sind weit davon entfernt, unsere Freiheiten auf inakzeptable Weise zu beschneiden, wie es einige besonders empfindliche Zeitgenossen in den sozialen Medien gerne behaupten und dabei die abstrusesten Theorien aufstellen.

Diese Zeit der unfreiwilligen Entschleunigung

Schreiben Sie eine Liste mit den Dingen, die Sie wirklich zum Leben brauchen. Stehen darauf Begriffe wie Liebe, Familie, Freundschaft, Natur, Tiere, Musik, Bücher, Filme, tanzen, wandern, singen, schwimmen, anderen helfen, in die Sterne gucken, Schneemänner bauen, lernen, kochen, singen? Dann geht es Ihnen gut, finde ich.

Wenn Sie ganz oben Geld, Bonus-Flugmeilen und den maskenfreien Besuch von Grossanlässen notiert haben, müssen Sie eine Weile mit einem Problem leben. Einem Luxusproblem, sofern man die Sache nüchtern betrachtet.

Klar, wir befinden uns in einer Krise, die grossen Schaden anrichtet, finanziellen und gesellschaftlichen. Wir machen Schulden, die noch mehrere Generationen nach uns belasten werden. Menschen werden arbeitslos, Geschäfte gehen in Konkurs, Existenzen werden zerstört. Der entlassenen Flugbegleiterin muss es wie blanker Zynismus erscheinen, wenn sie andere von Stille und blauen Himmeln ohne Kondensstreifen schwärmen hört. Der Kellner in Venedig, der seinen Job verloren hat, kann sich bestimmt nicht darüber freuen, dass seine Stadt zum Durchatmen kommt in dieser Zeit der unfreiwilligen Entschleunigung.

Dass während der Lockdowns Rehe, Füchse und Bären in den Strassen der Grossstädte auftauchten, mag eine sonderbare Magie besitzen, vielleicht einen Hauch von Romantik, aber für die Menschen in Quarantäne waren diese Erscheinungen vermutlich vor allem eines: Sinnbilder für den Kollaps des öffentlichen Lebens.

Dem Stillstand vermochten jene, deren Existenz unmittelbar bedroht war, nichts Positives abgewinnen, sie hörten nicht die Vogelstimmen, die ohne den Verkehrslärm plötzlich laut wurden, sie spürten, dass die Luft weniger dreckig war, aber sie empfanden das nicht als Gewinn, sondern als Bedrohung, als Zeichen des Niedergangs und nahenden Endes. Der Klimawandel hatte sie vielleicht beunruhigt, die Pandemie versetzt sie in Angst und Schrecken.



Weil Corona uns alle direkt betrifft, während die steigenden Temperaturen und Meeresspiegel noch zu abstrakt sind, zu wenig bedrohlich. Dass das Virus und seine Auswirkungen der Umwelt eine Atempause verschaffen, ist auf den ersten Blick toll, weil dringend notwendig, aber bei genauerem Hinsehen stellt die Mehrheit der Menschheit fest, dass das Herunterfahren der Wirtschaft alles infrage stellt, was sie bisher errungen hat, selbst wenn ihr bewusst ist, wie verheerend sich dieser Fortschritt auf unser Ökosystem und damit auf den Fortbestand unserer Spezies ausgewirkt hat.

Alles Gerede von der Chance dank Krise, von Umdenken und Neubeginn wird verhallen, sobald ein Impfstoff gefunden ist und die globale Produktionsmaschine wieder auf vollen Touren läuft und für Handel und Wohlstand sorgt.

Die Angst aus den Knochen schütteln

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, befürchte ich, und sich selbst der Nächste. Frisch geimpft und immunisiert wird er sich die Angst aus den Knochen schütteln, die Ärmel hochkrempeln und lächelnd verkünden, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.

Er wird rational und ökonomisch denken und dem Rat der Konzerne folgen, die Vollgas statt Drosselung fordern. Er wird sich wieder mindestens einmal im Jahr in einen Flieger setzen, weil es die anderen auch tun und weil er Arbeitsplätze retten will. Er wird den Müll trennen und die Fake News von der Wahrheit, sofern die Wahrheit in sein Weltbild passt. Er wird sich unbehaglich fühlen beim Betrachten von Bildern, die Überschwemmungen zeigen, Waldbrände und Wirbelstürme, aber er wird sich einreden, das Schlimmste überstanden zu haben. Dann wird er sich eine Komödie ansehen und irgendwann vor dem Fernseher einschlafen. Wovon er träumt, weiss ich nicht. Ich hoffe, von etwas Schönem, denn aufwachen wird er in der Wirklichkeit.

Ein zu negatives Ende, finden Sie? Dann schreiben Sie es um. Wir alle können die Geschichte unseres Planeten ändern. Überall, in allen Sprachen. Bleiben Sie gesund – und verlieren Sie nicht die Hoffnung!»


Was brauchen wir wirklich zum Leben? – Gestern Samstag erschien auf «blue News» der erste Teil unserer Umfrage unter Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftstellern.

Zurück zur Startseite