Schreibende zum Virus, 1. Teil«Müssen wir so viel Alkohol saufen und wöchentlich Party machen?»
Von Bruno Bötschi
26.9.2020
Wird die Coronapandemie unsere Gesellschaft verändern? Und was brauchen wir wirklich zum Leben? Die «blueNews»-Redaktion fragte nach bei Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Wer entscheidet, was wirklich notwendig ist? Was sind die Kriterien? Und worauf können wir Menschen verzichten? – In den vergangenen Wochen und Monaten wurde debattiert, verkündet und auch kritisch kommentiert, was für die Gesellschaft wichtig sein soll.
Was brauchen wir wirklich zum Leben?
Die Redaktion von «blueNews» bat Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller um eine Antwort auf diese Frage. Hier sind sie:
Milena Moser: «Waren nie mehr aufeinander angewiesen»
«Einander. – Doch genau das hat uns die Pandemie genommen. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der die Argumente so heftig, die Fronten so verhärtet waren, eine solch radikale Unversöhnlichkeit herrschte. Dabei waren wir nie mehr aufeinander angewiesen als jetzt.»
Alain Claude Sulzer: «Gesundheit, ein Zuhause, Liebe, Freunde»
«Wer diese Frage allgemein, also für andere (‹wir›) beantwortet, wird sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, als Gesinnungsdiktator dazustehen.
Tatsächlich lässt sich diese Frage nur individuell beantworten, ganz abgesehen davon, dass ‹wir› in jedem Lebensalter, in jeder Lebenslage andere Dinge wirklich brauchen, weil wir jeweils unterschiedliche Prioritäten setzen.
Ich brauche (jetzt) Gesundheit, ein Zuhause, Liebe, Freunde, genug Geld, genug Raum, genug Bücher, eine stabile Internetverbindung, ein Schreibgerät, einen Kochherd und angenehme Temperaturen.»
Andrea Keller: «Den Glauben an eine gelingende Zukunft»
«Resilienz: Man muss sich das Wort mal von der Zunge rollen und es mit einem langen Zzz am Schluss genüsslich ausklingen lassen. Es laut und deutlich sagen.
Resilienz. Das klingt etwas bockig, punkig, störrisch. Tatsächlich geht es dabei um Widerstand, aber um eine Form des Widerstandes, die an Bambus erinnert, nicht an Stein, nicht an Mauern. Zum Leben brauchen wir viel weniger, als wir meinen. Viel weniger, als uns das weltplündernde Wachstums-Mantra des Kapitalismus und die Werbung weismachen wollen.
Wir brauchen Nahrung: für den Körper, den Kopf, das Herz und die Seele. Ein friedvolles Zuhause ist wünschenswert. Humor. Und Hände und Haut. Berührendes. Kompliz*innen. Den Glauben an eine gelingende Zukunft – und, ja, Resilienz. Mit einem langen, zwischen den Zähnen hervorgezischtem Zzz am Schluss. Dieses magische Plus an Bambus, das uns biegsam macht, nicht brechen lässt. Das brauchen wir wirklich.»
Lukas Linder: «Diese Dinge waren nichts als unnötige Zusatzteile»
«In Zeiten der Krise erfährt das Leben eine erfrischende Selektion. Muss ich meine Ferien wirklich auf den Bahamas verbringen, ist es bei mir im Garten nicht genauso idyllisch? Soll ich wirklich in diesem Gourmet-Tempel speisen? Selbst gekocht schmeckt besser und ist erst noch günstiger. Möchte ich tatsächlich diesen 1'250-Seiten-Schinken lesen, obwohl ich bereits auf Seite vier ein Gefühl existenzieller Langeweile empfinde?
Apropos Langeweile: Brauche ich eigentlich ein Leben mit diesem Mann, dessen Charme so verwelkt ist wie sein Schnurrbart? In Zeiten der Krise erkennen wir, dass all diese Dinge nichts als unnötige Zusatzteile waren, Gadgets, die uns abgelenkt haben, von dem, was wirklich systemrelevant ist: wir selbst.»
Joachim B. Schmidt: «Worauf sollten wir verzichten?»
«Die Coronapandemie hat uns gar nicht so viel gelehrt, wie wir zu hoffen glauben – zum Glück, denn für die meisten von uns ist die Katastrophe ausgeblieben. Unsere finanziellen Kissen haben uns den Lockdown bequemer gemacht.
Und so sind die Lehren, die wir aus der Krise gezogen haben altbekannt: Wissenschaft ist wichtig und lebensrettend, populistische Politiker, die sich gegen die Wissenschaft stellen, sind gefährlich, dank Kultur geht im Lockdown niemand die Wände hoch, Familie und gesundes Essen zählen. Jeder Job ist essenziell. Zum Leben brauchen wir Gesundheit, Stabilität, Kreativität, ein solides, soziales Umfeld, frische Luft ...
Viel spannender ist es doch zu fragen: Worauf sollten wir, angesichts der Coronapandemie, verzichten? Müssen wir denn so viel Alkohol saufen und wöchentlich Party machen? Brauchen wir diabolische Kampfjets, täglich 200'000 Passagierflugzeuge am Himmel und Massentourismus?»
Was brauchen wir wirklich zum Leben? Morgen Sonntag erscheint auf «blueNews» der zweite Teil unserer Umfrage – eine längere Antwort von Schriftsteller Rolf Lappert.