Corona und kein EndeKlaus Heer: «Es wird klar, wer beziehungsfähig ist»
Von Bruno Bötschi
3.2.2021
Paartherapeut Klaus Heer erklärt, was die seit einem Jahr grassierende Corona-Pandemie für Paare bedeutet. Er sagt, warum Distanz in einer Partnerschaft so wichtig sein kann, spricht über Glücksmomente – und gibt Tipps für ein konfliktfreieres Zusammenleben.
Herr Heer, die Welt wird seit einem Jahr von der Corona-Pandemie erschüttert. Wie ist Ihr persönliches Befinden?
Eigenartig. Sehr eigenartig. Widersinnig. Ich bin seit fast einem Jahr in einer Art Seuchenstimmung. Und gleichzeitig gesund. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten kein Husten, kein Schnuderi, keine Erkältung. Nichts.
Vermissen Sie das?
Nein. Ich habe ja diesen ständigen Pandemiedruck in meiner Brust. Eine Mischung aus vager Angst, verschwommener Einsamkeit und langsam wachsender Resignation.
Mit 77 gehören Sie in der Corona-Krise zur Risikogruppe.
Eben. Die Covid-Seuchenstimmung drückt es mir jeden Tag auf: Du bist ein alter Mann, du wirst bald sterben. Das ist nicht Risiko, sondern todsicher. Auch wenn es dir gut geht. Noch. – So bereite ich mich widerspenstig auf das Unentrinnbare vor. Jeden Tag.
Und wie ist es den Paaren ergangen in den letzten zwölf Monaten, die Sie als Therapeut betreuen? Vor einem Jahr sagten Sie mir in einem Interview: «Zu viel Nähe bekommt keinem Paar.» Ist Ihre Vorhersage eingetroffen?
Klaus Heer, 77, bildete sich nach seinem Psychologiestudium in Hamburg und Bern in Psycho- und Paartherapie weiter. In den 47 Jahren, in denen er mit Paaren arbeitet, hat er sich den Ruf einer Kapazität in Fragen Liebe, Partnerschaft und Sexualität erworben. Er schrieb Sachbücher wie die Bestseller «Ehe, Sex & Liebesmüh’» und «Paarlauf. Wie einsam ist die Zweisamkeit?». Heer lebt und arbeitet in Bern.
Entschuldigung, aber das war keine spezifische Prognose, sondern eine generelle Diagnose! Ein Paar, das nicht sorgfältig für ausreichend Distanz sorgt, lebt gefährlich. Egal, ob Pandemie oder nicht, sagte ich damals. Jetzt, wo man wegen Lockdown, Quarantäne, Isolation oder Homeoffice aufeinander hocken muss, zeigt sich diese Gesetzmässigkeit nur um einiges drastischer.
Geht es etwas konkreter bitte?
Stellen Sie sich vor, Sie sind in den Ferien mit Ihrer Partnerin. In einem guten Hotel an der Amalfi-Küste. Alles super. Sonne, Meer, dolce far niente. Nur, Ihr gemeinsamer Urlaub zieht sich in die Länge, hört nicht auf. Ein Tag ist wie der nächste. Keine Abwechslung, keine Struktur. Immer deutlicher wird: das ist Folter. Die Hölle, das ist der andere. Sagt Jean-Paul Sartre sinngemäss.
Aber die Medien berichten doch dauernd über die Hölle der Einsamkeit, in der Menschen jetzt mehr und mehr versinken.
Zu Recht, ja. Hier reden wir aber von der Einsamkeit zu zweit. Vom Dichtestress in den eigenen vier Wänden. Davon, dass sich Nähe zu quälender Reibung verdichtet. Weil ich des anderen physische und psychische Dauerpräsenz kaum mehr aushalte. Weil ich immer weniger sehe, wie ich mich von ihm erholen könnte.
Gab es in den vergangenen zwölf Monaten mehr Trennungen als in einem gewöhnlichen Jahr?
Wohl kaum. Trennungen sind derzeit logistisch anspruchsvoller als sonst. Aber Social Distancing frisst sich hinein in das Herz der Zweisamkeit. Vielfältiger, bisher unbekannter Stress zersetzt lautlos die innere Verbindung vieler Paare: Emotional Distancing. Der laufende Quasi-Lockdown forciert diese Entwicklung.
Tönt schrecklich.
Finden Sie?
Ja.
Für mich ist das nicht so eindeutig. Coronabedingte emotionale Distanzierung macht auch einen Konstruktionsfehler in der gängigen Vorstellung von «Liebe» sichtbar. Es wird klar, wer wirklich beziehungsfähig ist. Nicht derjenige, der sich voll von Liebesgefühlen wähnt. Sondern der Nüchterne. Er ist stark genug, um das Zusammenleben als den Frust zu tragen, der es ist. Ob nun Corona stattfindet oder nicht.
Ihr Fazit tönt für mich nicht nüchtern, sondern geradezu abtörnend.
Der Ausdruck «desillusionierend» könnte vielleicht passen. Liebes-Illusionen führen fast immer in die Irre.
Es gibt, denke ich, aber auch Partnerschaften, die gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen. Oder?
Da bin ich vorsichtig und zurückhaltend. Kein Paar kann seine Überlebensfähigkeit zuverlässig einschätzen. Generell nicht, besonders aber jetzt nicht, in dieser irren und wirren Zeit. Jede und jeder muss stets damit rechnen, ernsthaft zu ermüden. Auch als Paar.
Vor einem Jahr sagten Sie mir im Interview: «Die Paare, die zu mir kommen, scheinen die Gunst der schweren Stunde zu spüren: Wenn wir je einen Neustart der Liebe wagen wollen, dann jetzt oder nie!» Wenn Sie heute auf die vergangenen zwölf Monate zurückblicken: Erlebten Sie mehr jetzt oder nie?
Weder noch, glaube ich. Es kommt mir so vor, als ob sich die Leute duckten vor der düsteren Schwere, die zäh über ihnen in der Luft hängt. Zermürbend ist das. Und ein Ende ist nicht abzusehen.
So grundsätzlich: Was könnten Paare tun, damit der Lockdown-Alltag nicht nur erträglich, sondern vielleicht sogar befruchtend für die Beziehung wirken kann?
Wenn Sie Ihren Seuchenalltag erträglich hinbekommen, sind Sie bereits zu beneiden. Das könnte nämlich zum Beispiel beweisen, dass Sie begriffen haben, wie schwierig Sie sind für Ihren Partner. Speziell schwierig in diesen pandemischen Zeiten. Offenbar ahnen Sie auch, dass Sie langsam davon abrücken müssten, verstanden werden zu wollen. Und Sie blicken mutig der Tatsache ins Gesicht, dass Sie zwei nicht zusammenpassen. Paradoxerweise kann das durchaus befruchtend sein für Ihre Beziehung. Mein Geheimtipp: Probieren Sie es einfach mal aus.
Haben Sie das selber schon ausprobiert?
Ja, klar! Dabei mache ich fast täglich die Erfahrung, dass es ein lebenslanger steiniger Weg ist, bis man einigermassen beziehungsfähig wird. Ich bin aber zuversichtlich, dass ich noch etwas Zeit habe, dem Ziel näher zu kommen. Und wissen Sie, es ist richtig gut, so unterwegs zu sein: nie mehr Krach mit meiner Frau. Fast nie mehr! Anstrengungen und Auseinandersetzungen verlagere ich in mein Inneres. Gerade zu Corona-Zeiten kann ich gut auf sinnfreie Kriegsszenen am Küchentisch verzichten.
Habe ich Sie richtig verstanden: Seit Sie wissen, dass Sie und Ihre Frau nicht zusammenpassen, streiten Sie weniger?
Die meisten Paare sagen mir: Wir sind so unfassbar verschieden voneinander. Es ist kaum auszuhalten. Und ich soll den beiden beistehen, diese irritierende Differenz wegzumachen. Ihre Unterschiede auszuradieren, das versuchen sie ja verzweifelt die ganze Zeit. Diese aussichtslosen Versuche sind ihr Problem, nicht ihre Unterschiede. Zwist und Zank erübrigen sich augenblicklich, sobald ich den anderen als fremd anstaune.
Gilt das auch für pandemische Differenzen?
Sie haben Recht. Es gibt tatsächlich Paare, die sich heillos in fundamental-religiöse Glaubenskriege verstricken. Wie und wie weit muss und kann man sich gegen Viren schützen, was ist mit Test und Impfung? Vor derlei Zerwürfnissen habe ich Respekt. Denn nicht immer lassen sich die Leute aus ihren emotionalen Schützengräben locken.
Was tun Sie in solchen Fällen als Paartherapeut?
Ich sage zum Beispiel: Lassen Sie mich jetzt nicht im Stich bitte. Ihr Thema ist vertrackt, und ich bin kein Hexenmeister. Nur zu dritt haben wir eine Chance, dass Sie aus der Nummer rauskommen. Wir starten mit der Frage: Was haben Sie bis jetzt konkret versucht? Was waren die Ergebnisse Ihrer bisherigen Bemühungen? Damit lade ich sie ein, von ihrem Kampfmodus auf Fantasie und Kreativität umzusteigen.
Vorhin wollte ich mehr wissen über die Beziehung zu Ihrer Frau. Sie sind meiner Frage elegant ausgewichen. Ich denke jedoch, als Paartherapeut mit jahrzehntelanger Erfahrung kennen Sie alle Klippen, die besser umschifft werden sollten. Nicht?
Haha, wie klein Hänschen sich einen alten Paartherapeuten vorstellt … Aber bitte: Jedes Paar hat seine eigenen Klippen, die praktisch nichts gemein haben mit den Klippen anderer Paare. Über unsere Klippen weiss ich, dass sie nicht «umschifft» werden dürfen. Klippen sind zum Klettern da, zum Extremklettern manchmal.
Erlebten Sie persönlich im vergangenen Jahr – ausser der Tatsache, dass Sie weniger streiten – auch einmal einen schönen Moment ohne Wenn und Aber?
Viele, viele unspektakuläre Glücksmomente, ja! Häufig auf unseren fast täglichen Spaziergängen in Kälte, Matsch und Niederschlag. Meist Hand in Hand. Mal still, mal redend – so gut wie immer smalltalkmässig. Small is beautiful. Und macht immer wieder richtig gute Augenblicke.
Wenn Sie reden während dem Spazieren, über was reden Sie dann?
Ganz einfach, wir erzählen einander haarklein die Mikro-Geschichten, die uns das Leben jeden Tag beschert und was wir darüber denken. Und ebenso einfach: wir interessieren uns ausdrücklich dafür. Das tut gut und hält lebendig.
Wann die Corona-Pandemie vorbeigeht, ist nach wie vor total ungewiss. An den äusseren Zwängen – Arbeit im Homeoffice, Haushalt, Social Distancing und so weiter – wird sich für Paare und Familien in den nächsten Monaten kaum etwas ändern. Wie kann man sich da selbst nicht aus den Augen verlieren und eigene Freiräume aufrechterhalten?
Sie sprechen das grosse klassische Beziehungs-Paradoxon an: einander treu und liebevoll zugewendet sein und gleichzeitig sich selber. Unter belastenden Bedingungen. Wenn ich Ihre Frage recht verstehe, laden Sie mich ein, darüber ein dickes Buch zu schreiben. Nett von Ihnen. Aber ich glaube, es genügt, wenn ich das Thema auf unseren Spaziergängen meiner Frau vorschlage. Und Sie tun dasselbe in Ihrer Paarschaft. Okay?
Okay. – So grundsätzlich: Was sind die langfristigen Folgen der Corona-Krise für die Gesellschaft?
Unsere Medien interessieren sich akribisch und tagtäglich für «Fall»-Zahlen und Impflogistik. Doch der Gesundheitsminister verkündet vor ein paar Tagen, die Suizidstatistik von 2020 sei erst im Dezember 2022 fertig. Das lässt nichts Gutes ahnen. Der virologische Imperativ quetscht alle zu erwartenden gigantischen Schäden der behördlichen Massnahmen brutal ins Abseits der allgemeinen Aufmerksamkeit. Diese neuartige Seuchenstimmung macht mich immer mehr fertig.