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Bötschi fragt Olympiasiegerin Michelle Gisin: «Was mache ich eigentlich da?»
Bruno Bötschi
16.11.2018
Olympiasiegerin Michelle Gisin erzählt im Interview von ihrem Umgang mit der Angst während eines Abfahrtsrennens. Sie sagt überdies, warum ihr der Umweltschutz am Herz liegt – und klärt über ihren Lieblingsmann auf.
Eigentlich hätte Michelle Gisin an diesem Nachmittag im Engadin trainieren sollen. Aber das Wetter machte dem Schweizer Skiteam einen Strich durch die Rechnung. Stattdessen sitzt die Kombinations-Olympiasiegerin jetzt mit dem «Bluewin»-Journalisten in einer Beiz in ihrem Heimatort Engelberg.
Gisin hat ein verrückt erfolgreiches Jahr hinter sich: Vier Jahre nach ihrer Schwester Dominique gewann auch sie an Olympischen Spielen eine Goldmedaille.
Wer mit Michelle Gisin dieser Tage spricht, spürt, dass es noch etwas Zeit braucht, bis sie ihren Olympiasieg richtig einordnen kann. Es ist aber auch zu spüren: Diese Frau ist bereit für mehr. Viel mehr.
Wenn nicht schon in diesem Winter, so will sie spätestens im nächsten um den Gesamtweltcup ein Wörtchen mitreden. Und das mit dem Reden ist durchaus wortwörtlich gemeint: Die 24-jährige Sportlerin redet gern. Es sprudelt geradezu aus ihr heraus.
Frau Gisin, wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle Ihnen in der nächsten 30 Minuten möglichst viele Fragen – und Sie antworten möglichst schnell und spontan. Passt Ihnen eine Frage nicht, sagen Sie einfach «weiter».
Das schaffen wir.
Hunde oder Katze?
Katze. Definitiv. Ich bin nicht sicher, ob die Hunde mehr Angst vor mir haben oder ich vor ihnen. Bisher waren wir jedenfalls keine gute Kombination.
Abfahrt oder Slalom?
Kombination am besten.
Buch oder E-Book?
Ich liebe Bücher, ich habe gern Papier in der Hand.
Was lesen Sie am liebsten?
Fantasy-Romane.
Als Skirennfahrerin sind Sie oft unterwegs. Ich stelle es mir ziemlich schwierig vor, mit vielen Büchern im Gepäck zu reisen.
Meistens kaufe ich am Flughafen noch einige Bücher und schleppe sie im Handgepäck mit. Oft ist eines vor der Landung bereits fertig gelesen.
Als Sie im Teenageralter waren, soll die Bibliothek Engelberg Ihretwegen eine Super-Super-Kategorie für die Anzahl gelesener Seiten eingeführt haben.
Das stimmt. Anfänglich war die höchste Auszeichnung das Gold-Diplom, später gab es ein Diamant-Diplom, dann ein Super-Diplom und ein Super-plus-Diplom. Nachdem ich den fünften Band von Harry Potter – er hat über 1000 Seiten – gelesen hatte, wurde dann das Super-Super-Diplom für 20'000 gelesene Seiten eingeführt.
Bestseller oder Geheimtipps?
Beides. Es gibt immer wieder Geheimtipps, die, nachdem ich sie gelesen habe, noch zu Beststellern wurden.
Lesen Sie manche Bücher auch zweimal?
Oh ja. Den ersten Teil von «Twilight» las ich sogar viermal nacheinander (lacht laut).
Wieso das?
Meine Eltern schenkten mir den ersten Teil zum 11. Geburtstag (5. Dezember, Anmerkung der Redaktion). Ich brauchte nur zwei Tage, bis ich das Buch fertiggelesen hatte. Eine Kollegin wollte mir danach den zweiten Teil ausleihen. Als ich das begeistert meiner Mom erzählte, schaute sie komisch und meinte nach einigem Nachhaken, sie hätte bereits Band zwei und drei für mich als Weihnachtsgeschenk gekauft. Weil ich aber nicht so lange warten wollte, las ich bis zu den Festtagen einfach den ersten Band noch dreimal. Sehr crazy, ich weiss.
Wirklich wahr, dass Sie mit eins zum ersten Mal auf Skiern gestanden sind?
Das stimmt – aber nicht auf einer Skipiste, sondern bei uns im Garten. Meine Geschwister haben mich dort auf dem Schnee herumgeschoben. Zum ersten Mal auf einer Piste stand ich mit zwei.
Es sind ganz offensichtlich gute Gene, die die Eltern Gisin an ihre Kinder weitergegeben haben: an Michelle, Dominique und ihren Bruder Marc. Talentierte Skirennfahrer sind sie alle, und auch sonst scheinen die Geschwister mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen.
Kann man von Ihnen sagen, dass Sie irgendwie von Anfang an schon alles konnten, praktisch gleich als Genie auf der Piste eingestiegen sind?
Das müssten Sie meine Familie fragen. Ich weiss nur, dass ich sofort Freude hatte am Skifahren.
Wer war Ihr Vorbild?
Ich hatte mehrere. Mein allergrösstes Vorbild war Sonja Nef, von ihr war ich total begeistert. Gut fand ich zudem Bode Miller und Tanja Poutiainen. Später eiferte ich natürlich auch meiner Schwester Dominique und meinem Bruder Marc nach. Ich habe auch einige Autogrammkarten von Schweizer Sportlern, die ich bewundere, daheim.
Zwischenstand: Wasserfall. Ja, Michelle Gisin redet manchmal wie ein Wasserfall. Sie ist dann fast nicht mehr zu stoppen. Aber das macht Spass, weil bei ihre keine Allüren zu spüren sind. Keine affektierten Gesten, keine Show – einfach Michelle.
Von welchen Sportlerinnen und Sportlern reden Sie?
Von Simon Ammann unter anderem, von Wendy Holdener und vom Eishockeyspieler Lino Martschini.
Eine Lehre, die Ihnen Ihre Mutter über die Menschen mitgegeben hat?
Mam hat uns Kinder gelehrt, dass es wichtig ist, Ziele zu haben im Leben und diese dann mit hundert Prozent zu verfolgen.
Eine Angewohnheit, die Sie von Ihrem Vater übernommen haben?
Dad lehrte uns, Respekt vor anderen Menschen zu haben – und fair zu sein mit seinem Gegenüber.
Ihre neun Jahre ältere Schwester Dominique sagte einmal: «Anstatt Rennen zu fahren, war ich jahrelang entweder im Spital oder daheim. Das hat Michelle enorm geprägt. Es ist ein Wunder, dass Michelle überhaupt noch Skifahrerin werden wollte.» – Warum hielt Sie dies nicht davon ab, ebenfalls Skirennfahrerin zu werden?
Ich habe mir jahrelang gewünscht, ich könnte mit Dominique das Knie tauschen. Die Leidenschaft meiner Schwester für den Sport ist noch um vieles grösser als meine. Gleichzeitig habe ich immer gesehen, wie viel der Skisport meiner Schwester gibt – und wie sie sich immer wieder zurückgekämpft hat. Ich bekam von klein auf vorgelebt, wie schön es sein kann, mit Leidenschaft für eine Sache zu kämpfen.
Macht man sich nie Gedanken über den Sinn?
Doch. Vor allem kurz nach der Saison, wenn mehr oder weniger von einem Moment auf den anderen nicht mehr der ganze Tag verplant ist, dann gibt es immer wieder Zeiten, in denen ich denke: Was mache ich da eigentlich? Was läuft da um mich herum? Wenn ich darauf eine Antwort gefunden habe, melde ich mich gern nochmals bei Ihnen. Und falls Sie den Sinn des Lebens zuerst gefunden haben, dürfen Sie sich ruhig auch bei mir melden.
Jahrelang kämpfte Lindsey Vonn dafür, gemeinsam mit den Männern eine Abfahrt bestreiten zu können. Würde Sie so ein Unterfangen ebenfalls reizen?
Nein, danke. Vor allem nicht eine richtige Männer-Abfahrt – und schon gar nicht das Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel.
Muss man eine Egoistin sein, um so erfolgreich Ski zu fahren, wie Lindsey Vonn es tut?
Das müssten Sie Lindsey selber fragen, aber ich hoffe nicht.
Inwiefern gehört die mediale Inszenierung heute im Skirennsport zum Geschäft?
In unserer kurzlebigen Zeit ist es extrem wichtig geworden, dass unser Sport auf allen Kanälen präsent ist.
Instagram: Selbstverfasst oder Agentur?
Selbstverfasst. Ich bin mein eigenes Management, hin und wieder hilft mir meine Schwester Dominique. Und unsere Mam hilft bei der Fanpost, wenn ich längere Zeit nicht daheim bin. Ich finde es extrem wichtig, dass ich mich selber manage, auch wenn ich dadurch vielleicht etwas weniger Sponsoren finden werde. Dafür kann ich hinter allem, was ich tue, voll und ganz stehen. Manchmal gibt es deshalb mehr zu sehen und manchmal weniger. Wenn ich keine Fotos zu teilen habe, erzwinge ich nichts.
Gut 15 Minuten des Interviews sind vergangen. Sie redet nun mal gern, was den Journalisten in die Bredouille bringen könnte. Er hat doch noch so viele Fragen auf seinem Blatt Papier stehen.
Nach wie vor eine Tennis-Twitter-Userin?
Im letzten Jahr hatte ich zu wenig Zeit, um regelmässig Tennis zu gucken. Aber ich sollte das wiederaufleben lassen.
Wie stoppt man nach dem Rennen ein langweiliges Interview mit einem Journalisten?
Schwierig, bei mir unmöglich (lacht laut).
Skistars gelten in der Schweiz als Nationalhelden. Wie können Sie sich von diesem Erwartungsdruck befreien?
Der Erwartungsdruck der Nation ist weniger ein Problem. Mehr Mühe habe ich mich mit dem Bild, das die Öffentlichkeit von mir als Olympiasiegerin hat. Es kommt mir nach wie vor komisch vor, wenn mich Kinder anhimmeln, so wie ich es früher bei Sonja Nef oder Didier Cuche getan habe. Ich bin doch immer noch die gleiche Michelle, der gleiche Mensch wie vor meinem Olympiasieg. Bezüglich des Drucks von innen wirkt die Goldmedaille befreiend. Weil ich mir jetzt sagen kann: Das habe ich erreicht, das kann mir nie mehr jemand wegnehmen.
Was bedeutet Erfolg für Sie?
Erfolg ist mir, ehrlich gesagt, nicht so wichtig. Natürlich war der Olympiasieg toll, und es war wunderbar, dies erleben zu dürfen. Weil mir dieser Sieg auch die Bestätigung gab, auf dem richtigen Weg zu sein. Aber noch viel wichtiger als das Siegen sind für mich die Emotionen, die ich dank des Skisports erleben darf. Die Emotionen auf der Piste, die Emotionen, wenn ich ins Ziel fahre, die Emotionen, die ich danach mit meiner Familie, mit meinen Freunden, mit dem Publikum teilen darf. Gleichzeitig weiss ich aber auch, dass die Momente wichtig sind, in denen ich keinen Erfolg habe. Misserfolge machen dich stärker, und in solchen Zeiten merkst du zudem, wer zu dir hält.
Sie sind mit dem besten Riesenslalom-Ergebnis Ihrer Karriere in den Winter 2018/19 gestartet. Ein gutes Omen?
Ich hoffe es. Ich habe mich riesig gefreut, dass es in Sölden so super gelaufen ist. Bereits während der Vorbereitung hat es gut geklappt mit dem Riesenslalom-Training. Aber wenn die Rennen losgehen, ist es ja immer noch einmal etwas anderes.
Mikaela Shiffrin antwortete im Oktober, als Sie gefragt wurde, wer ihre härtesten Gegnerinnen in der kommenden Saison sein werden: «Wendy Holdener und Michelle Gisin werden im Speed immer besser, sie sind gefährlich.»
Damals hat sie mich ja noch nicht Riesenslalom fahren sehen (lacht laut). Es wäre extrem schön, wenn ich im Gesamtweltcup auch ein Wörtchen mitreden könnte. Es ist eines meiner grossen Ziele. Auch wenn ich denke, dass ich im kommenden Winter wahrscheinlich noch nicht ganz, ganz vorn mitmischen kann. So oder so: Gegen Mikaela Shiffrin, eine der technisch besten Skifahrerinnen, die die Welt je gesehen hat, wird es sicher nicht einfach werden. Aber auch Wendy Holdener fährt sensationell und gibt jetzt eben auch noch viel Gas in den Speed-Disziplinen. Um im Gesamtweltcup vorn mitzumischen, muss ich in den Speed-Disziplinen absolut perfekt fahren und in den Disziplinen Slalom und Riesenslalom einen Schritt vorwärts machen. Eine Herausforderung, die ich gerne annehme.
Ab welchem Zeitpunkt vor dem Start zu einem Rennen läuft alles automatisch ab?
Spätestens dann, wenn ich ins Starthaus reinrutsche – ich habe aber bereits am Morgen und in den Tagen vor einem Rennen diverse Rituale eingebaut, um mich auf den Renntag einzustimmen.
Welche?
Kurz vor dem Start schlage ich die Handschuhe zusammen. Damit angefangen habe ich nach meinem Kreuzbandriss. Früher schaute ich jeweils im letzten Moment das erste Tor an und dachte: ‹Oh, Hilfe!› So bekam ich Sekunden vor dem Start immer ein schlechtes Gefühl für das Rennen.
Heute hört im Starthaus das Denken auf?
Ja, das ist der Moment, in dem die automatisierten Abläufe starten, die ich so oft mit meinem Mentalcoach Chris Marcolli trainiert habe. Ab diesem Moment fühle ich mich extrem wohl. Das ist sehr wichtig. Fühle ich mich wohl, kann ich mit Freude fahren – und dann bin ich meistens auch schnell unterwegs.
Ist die Plüsch-Eule als Glücksbringer auch in diesem Winter dabei?
Selbstverständlich, sie ist immer dabei.
Hat die Eule einen Namen?
Sie heisst Leo.
Wegen was zuletzt einen Lachanfall bekommen?
Erst neulich. Luca, mein Freund, kitzelte mich. Jesses, ich bin so unendlich kitzlig, man kann mich kaum berühren. Oft ist es so schlimm, dass ich fast keine Luft mehr kriege, einmal habe ich deswegen Luca fast k.o. geschlagen (lacht laut).
Der verrückteste Ort, an dem Sie je Ski gefahren sind?
Im Rennanzug ist es die Abfahrt in Cortina. Im Tofana-Schuss rasen wir zwischen zwei Felsen hindurch, ein wahnsinniges Gefühl. Unglaublich ist auch die Abfahrt in Lake Louise, dort schaffen wir Tempi bis zu 130 Stundenkilometer. Privat mag ich die Laub in Engelberg sehr gerne. Ein wunderbarer Ort zum Freeriden.
Spüren Sie am Morgen jeweils, dass Sie seit Jahren Spitzensport betreiben?
Definitiv. Letzten Winter, nach den drei Rennen in Bad Kleinkirchheim, konnte ich mich kaum mehr bewegen. Das war extrem.
Wo tut es derzeit weh?
Zum Glück nirgends. Meine Schwachpunkte sind die Hüfte, und ab und zu knorzt und knarzt das Knie. Ich denke, es ist deshalb eine Chance für mich, dass ich künftig alle Disziplinen im Weltcup fahren werde. Früher habe ich nur Slalom trainiert, und da ist die Belastung auf die Gelenke viel höher. Jetzt trainiere ich auch regelmässig die Speed-Disziplinen.
Wie entschleunigen Sie?
Am liebsten mit Lesen, wenn dann noch eine Kerze brennt, geht es ganz schnell. Oder daheim mit Luca oder meiner Familie auf dem Sofa beim Fernsehen.
Verzichtbarer: Schneekanonen oder Smartphone?
Smartphone. Für den Skisport braucht es heute Schneekanonen, sonst könnten oft keine Rennen stattfinden. Schöner wäre es natürlich, wenn wir nur auf Naturschnee fahren könnten.
Für neue Skipisten werden immer wieder Wälder abgeholzt – auch für die Olympischen Winterspiele im südkoreanischen Pyeonchang 2018. Haben Sie deswegen manchmal ein schlechtes Gewissen?
Natürlich, ja. Andererseits: Wenn wir alle Umweltbelastungen eliminieren würden, könnten überhaupt keine Sportevents mehr durchgeführt werden. Und das wäre auch kein guter Weg. Stattdessen sollten wir ein gesundes Mittelmass finden. Und ganz wichtig: Umweltschutz fängt bei mir selber, also im Kleinen an – immer das Licht löschen, Abfall trennen, möglichst regional einkaufen und so weiter.
So ganz grundsätzlich: Was machen wir Menschen im Umgang mit der Natur falsch?
Eines der Probleme ist, dass die langfristige Planung oft zu wenig berücksichtigt wird. Zudem denken sich viele Menschen: Ach, allein kann ich sowieso nichts ändern – und deshalb kaufe ich auch weiterhin Erdbeeren im Februar. Wenn wir aber alle weiterhin auf diesem Weg bleiben, dann kann, dann wird sich nichts ändern. Ich weiss, niemand ist perfekt, ich am allerwenigsten, aber wir alle sollten unser Möglichstes für den Umweltschutz tun. Ich fände es toll, wenn Audi, einer unserer Sponsoren, uns Skisportlern in Zukunft die neuen elektrifizierte E-Tron-Modelle zur Verfügung stellen könnte. Und ich finde es auch wichtig, dass die FIS in den Skigebieten, in denen unsere Rennen stattfinden, immer wieder Druck macht, dass nachhaltig gearbeitet wird.
Waren Sie je auf einer Demo?
Nein.
Wann bauen Sie endlich einen Trinkwasserbrunnen in Afrika?
Gute Frage, das habe ich mir noch nicht überlegt. Wahrscheinlich gibt es Projekte, die ich noch vorher angehen werde.
Der Ex-Abfahrer Marco Büchel sagte im «Spiegel»: «Ich habe gelernt, am Limit zu fahren, aber nie darüber.» – Wo ist Ihr Limit?
Das ist auch ein Ziel von mir. Ich will mich in den Speed-Disziplinen Schritt für Schritt ans Limit herantasten, aber nicht darüber hinausgehen. Ein Sturz tut brutal weh.
Büchel weiter: «Wenn ich mit bis zu 150 Stundenkilometern über eine eisige, holprige Piste donnere, ist das eher selten Spass.» – Macht es Ihnen auch keinen Spass, wenn es auf der Abfahrt extrem schnell wird?
Zum Glück haben wir bei den Frauen keine Abfahrtsstrecken, auf denen wir mit 150 Stundenkilometern den Berg hinunterrasen. Unser Spitzentempo ist 130, aber auch dann schüttelt es kräftig. Ich glaube, daran werde ich mich nie richtig gewöhnen können. 120 Stundenkilometer hingegen kann ich noch geniessen. Wenn die Piste gut präpariert ist, macht mir das Tempo auch weniger aus. Und wenn ich dann noch die richtige Linie erwische, ist es sogar wahnsinnig schön. Aber wenn es schüttelt und schlägt und du nicht weisst, ob du noch das gesamte Material an den Füssen, in den Händen und auf dem Kopf hast, dann macht es schon nicht so viel Spass.
Nochmals Marco Büchel: «In Extremsituationen ereilen den Athleten mitunter Zweifel.» Der Liechtensteiner Skirennfahrer guckte dann jeweils seinem Servicemann tief in die Augen. Was tun sie, wenn Sie die Angst packt?
Als ich anfing, Speed-Disziplinen zu fahren, war die Angst immer mit dabei. Mir war wichtig, sie nicht zu bekämpfen oder zu unterdrücken, sondern zu lernen, wie ich am besten mit der Angst umgehen kann.
Das müssen Sie erklären.
Ich habe nach wie vor Respekt vor den meisten Abfahrtsstrecken, aber heute weiss ich, dass mir die Angst helfen kann. Sie hilft mir unter anderem dabei, nicht über das Limit hinauszugehen.
Sie riskieren auf Steilhängen bei Geschwindigkeiten von über 100 Stundenkilometern Ihre Gesundheit – und werden dabei nicht einmal reich.
Ich fahre nicht Skirennen, weil ich möglichst viel Geld verdienen will. Ich fahre Ski, weil mich das glücklich macht. Weil ich den Skisport extrem liebe.
Anders als im Tennissport werden im Skizirkus bei den Damen und Herren gleich hohe Preisgelder ausbezahlt. Gilt die Gleichberechtigung auch in allen anderen Bereichen im Skisport?
Es gibt nach wie vor Unterschiede. Ich sehe das bei meinen Kolleginnen, die es noch nicht in die Top Ten geschafft haben. Dort ist es eventuell bei den Herren ein wenig einfacher. Die Frauen, die «nur» in den Top 20 oder 30 sind, haben öfters Mühe einen Kopfsponsor zu finden. Die meisten Sponsoren wollen nur Sieger als Botschafter haben. Das ist schade. Ich hatte das Glück, dass ich schon zu Zeiten, als mein Name nur selten in der Zeitung stand, mit dem Architekturbüro Thommen und mit Alpiq bereits zwei Sponsoren fand, die mich unterstützt haben. Das war extrem schön und hat mir bei der Planung meiner Karriere sehr geholfen.
So, genug über Sport geredet, jetzt ist ihr Lieblingsmann dran: Luca De Aliprandini. Der italienische Skirennfahrer wohnt eine Stunde vom Gardasee entfernt. Im Sommer ist Michelle Gisin oft bei ihm. Er hat im Keller einen Kraftraum eingebaut, gemeinsam wird an der Fitness gefeilt. – Sorry, dieses Interview geht also sportlich weiter.
Ihr Freund Luca De Aliprandini ist ebenfalls im Skirennsport aktiv: Macht es eine Beziehung einfacher, wenn der Partner ebenfalls Sportler ist?
Einfacher, aber gleichzeitig auch schwieriger. Das gegenseitige Verständnis und die Akzeptanz sind grösser, aber leider sehen wir uns während der Saison fast nie, weil die Rennen der Damen und Herren selten am gleichen Ort stattfinden. Aber die Beziehung zu Luca ist extrem wichtig für mich. Er versteht mich und gibt mir Balance.
Ihr Freund soll Sie anfänglich gestalkt haben, weil sie ihn anfangs nicht wollten.
So schlimm war es nicht. Als wir uns noch nicht kannten, dachte ich manchmal: Was ist das nur für ein italienischer Skifahrer mit diesem ewig langen Namen, der meine Fotos ständig likt auf Instagram?
Ist es einfacher, den inneren Schweinehund zu überwinden, wenn der Lieblingsmann beim Training dabei ist?
Jein. Ich trainiere mit Luca oft in einem Pulsbereich, den andere Athletinnen wohl als nicht optimal empfinden würden. Vor allem am Anfang der Konditionstrainings-Phase renne ich ihm oft hinterher. Aber ich habe gemerkt, dass mir das extrem guttut. Irgendwann passt sich mein Herzschlag an, und ich kann einigermassen mithalten.
Wann zuletzt eingeschüchtert gewesen von der grossen, weiten Welt?
Ich bin immer wieder eingeschüchtert. Zum Beispiel, wenn wir mit dem Schweizer Skiteam mit dem Flugzeug in Metropolen wie Buenos Aires oder Seoul landen und ich realisiere, wie viele Millionen Menschen dort leben. In solchen Momenten wird mir, die in einem kleinen Bergdorf aufgewachsen ist, klar, wie schwierig es sein muss, eine umweltgerechte Politik zu realisieren. Und trotzdem werde ich die Hoffnung nicht verlieren, dass die Menschheit es irgendwann einmal schaffen wird.
Der österreichische Skisport wird zurzeit von einem Missbrauchsskandal erschüttert. Ist der Sport prädestiniert für sexuelle Gewalt?
Es ist furchtbar und total traurig, dass solche Übergriffe passieren. Aber ob der Sport dafür mehr prädestiniert ist? Ich weiss es nicht. Sicher ist, dass es in manchen Momenten eventuell gute Möglichkeiten für Übergriffe gibt, weil Trainer und Betreuer eine Vormachtstellung haben. Trotzdem denke ich, dass die Quote der Übergriffe im Sport nicht höher ist als in anderen Lebensbereichen.
Thematisieren Sie mit Ihren Mannschaftskolleginnen die Sexismusdebatte Metoo?
Wir haben einmal kurz darüber gesprochen. Wir haben das Glück, dass es bei uns keinen dieser Vorfälle gibt. Ich weiss jedenfalls von niemandem, dem so etwas widerfahren ist – und sonst wäre es schrecklich, wenn es so wäre und wir nicht davon wüssten. Aber ehrlich gesagt: Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass so etwas in unserem Team passieren könnte. Gleichzeitig weiss ich aber auch, dass es leider sehr oft jene Leute betrifft, bei denen man es sich überhaupt nicht vorstellen kann. Es ist ein sehr heikles Thema.
Ihre grösste Niederlage?
Ich weiss gerade nicht – oder doch: An der letzten Skiclub-Meisterschaft hat Dominique, meine Schwester, nochmals gewonnen. Das muss sich im nächsten Jahr ändern.
Ihr grösster Sieg?
Das ist jetzt eine Definitionsfrage. Sportlich gesehen ist es sicher der Olympiasieg im vergangenen Februar in der Kombination. Aber für mich persönlich war eben auch der Weg dorthin ein wichtiger Sieg. Am Tag davor war ich im Abfahrtsrennen ins Ziel gestürzt. Abends lag ich ziemlich verwirrt im Bett. Ich konnte nicht einmal die Strecke im Kopf durchgehen, weil ich mich nur noch an die Hälfte erinnern konnte. Trotzdem brachte ich am nächsten Tag einen super Lauf runter. Als ich ins Ziel fuhr, schossen mir vor lauter Glück die Tränen in die Augen. Aber ich trug ja die Nummer eins, wusste also noch gar nicht, wie meine Konkurrentinnen fahren würden.
Doppeltes WM-Gold in Are oder lieber den Gesamtweltcup im März 2019?
Gesamtweltcup, definitiv.
Zum Schluss machen wir noch einen Talenttest: Sie schätzen bitte Ihr Talent von null Punkten, keinerlei Talent, bis zu zehn Punkten, maximales Talent. Ihr Talent als Raumpflegerin?
Ich würde sagen acht, nein, neun … – ach, sagen wir: achteinhalb. Ich kann nicht schlecht putzen, ausser die Fenster, das habe ich noch nicht so gut im Griff.
Als Köchin?
Eher mässig, darum gebe ich mir nur fünf bis sechs Punkte. Man kann essen, was ich koche, aber meine Küche ist nicht sehr einfallsreich. Backen kann ich viel besser.
Als Sängerin?
Ui, das müssen Sie nicht mich fragen. Ich singe wahnsinnig gern und würde mir so gern sieben Punkte geben. Aber in Wirklichkeit sind es wahrscheinlich maximal zweieinhalb Punkte.
Laufen die Leute weg, wenn Sie Karaoke singen?
Ich weiss nicht, ich habe es noch nie getestet.
Als Tänzerin?
Das kommt auf die Uhrzeit an. Aber wahrscheinlich bin ich auch da eher unterdurchschnittlich talentiert, sagen wir fünf, nein: vier Punkte.
Als Schweizerin?
Ich bin unpünktlich, ein grosser Minuspunkt. Dafür bin ich sehr, sehr ordentlich – sogar im Hotel lege ich alle meine Sachen immer ganz ordentlich zusammen. Und ich kann mehrere Dialekte nachahmen. Ich gebe mir deshalb: sechseinhalb Punkte.
Zwei Slaloms im finnischen Levi
Michelle Gisin geht an diesem Wochenende in Levi, Finnland, an den Start. Die Slalom-Rennen sind die zweite Skiweltcup-Veranstaltung in der Saison 2018/2019 nach dem Weltcup-Auftakt im österreichischen Sölden.
Den Slalom der Damen können Sie am Samstag, 17. November, auf SRF zwei verfolgen (1. Lauf ab 10.05 Uhr, 2. Lauf ab 13.05 Uhr). Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.
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