Leben in der HölleGaddafis fiese Rache – aus dem Tagebuch einer Schweizer Geisel
Max Göldi
31.10.2018
695 Tage Angst. 695 Tage Ungewissheit. 695 Tage Einsamkeit – Max Göldi war eine Geisel des Diktators Muammar al-Gaddafi. Nun hat der Schweizer Ingenieur ein Buch über diese für ihn schlimme Zeit zwischen 2008 und 2010 geschrieben.
Er erzählt von immer wieder zerstörten Hoffnungen und grossen Ängsten. Und er berichtet, wie er sich während seiner Haft den sich ständig verändernden Lebensumständen anpassen musste, vom Überleben in libyschen Gefängnissen, von Entführung, Einzelhaft, Lösegeldforderungen, Willkür und kafkaesken Schauprozessen.
Göldi weiht die Leserinnen und Leser in Fluchtpläne ein, erinnert sich an boshafte Mitmenschen, überforderte Beamte, schillernde Vermittler und standfeste Diplomaten. Und daran, wie es war, als er am 14. Juni 2010 in Begleitung der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in der Schweiz landete und endlich seine Frau wieder in die Arme schliessen konnte.
«Bluewin» publiziert einen exklusiven Textauszug – dazu können die Leserinnen und Leser am Ende der Geschichte das Buch zu einem vergünstigten Preis direkt beim Verlag bestellen.
Zwei Jahre in Geiselhaft
«Am 15. Juli 2008 wurde Hannibal Gaddafi, Sohn des langjährigen libyschen Diktators Muammar Gaddafi, in Genf verhaftet. Als Vergeltung dafür und um der Schweizer Regierung Zugeständnisse abzupressen, hielt das libysche Regime mich und einen weiteren Schweizer während fast zwei Jahren in Libyen als Geiseln fest.
Diese sogenannte Libyen-Krise war für die Schweiz wohl eine der größten außenpolitischen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte. In den Schweizer Medien wurde detailliert und zum Teil auch sehr emotional darüber berichtet, aber aus verschiedensten Gründen sind interessante Details und Episoden dieses skurrilen zwischenstaatlichen Konflikts nie publik geworden.
Die nicht libyschen Interessengruppen (die Behörden des Kantons Genf, das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten, die Geiseln und ihre Familien, mein Arbeitgeber, die Presse et cetera) verfügen zwar alle über mehrere Puzzleteile dieser komplexen diplomatischen Krise, aber wohl niemand kann diese Einzelteile zu einem kompletten Bild zusammenfügen.
Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats (der »kleinen Kammer« des Schweizer Parlaments) hat zwar im Dezember 2010 einen interessanten Untersuchungsbericht mit dem Titel »Verhalten der Bundesbehörden in der diplomatischen Krise zwischen der Schweiz und Libyen« veröffentlicht, aber darin werden nur bestimmte Teilaspekte analysiert.
Als direkt Betroffener verfüge ich über viele Informationen. Vieles habe ich in persönlichen Gesprächen, insbesondere mit Schweizer Diplomaten, erfahren. Da ich während der ganzen Libyen-Krise in Tripolis festsaß, bekam ich aber nur indirekt Einsicht in Vorgänge, die sich auf anderen wichtigen Schauplätzen (Bern, Genf, Berlin et cetera) abspielten.
Es wäre vermessen, zu behaupten, dass dieses Buch die Krise umfassend beschreibt, aber es vermag sicherlich einige Lücken in diesem Puzzle zu schließen. Meine umfangreichen und sehr detaillierten Tagebücher, die ich während dieser Zeit geschrieben habe, bilden die Grundlage dieser Publikation. Zur Ergänzung habe ich – in serifenloser Schrift – persönliche Korrespondenz sowie einige öffentlich zugängliche Dokumente eingefügt.
Grossen Drang, zu reisen
Schon als Jugendlicher verspürte ich einen großen Drang, zu reisen. Das Exotische ferner Länder hatte mich immer fasziniert und wie magisch angezogen. ABB, ein führender und weltweit tätiger Technologiekonzern mit Hauptsitz in der Schweiz, hatte mir im Lauf meiner beruflichen Karriere immer wieder ermöglicht, fern von Europa in verschiedensten Positionen zu arbeiten. Unter anderem war ich in Ländern tätig, die nicht in gängigen Ferienprospekten zu finden sind, wie zum Beispiel in Irak, Pakistan, Algerien und Saudi-Arabien.
Mitte 2007 wurde ich von ABB zum Länderverantwortlichen in Libyen ernannt. Nicht zuletzt auch, weil das Land in fast jeder Hinsicht als schwierig galt, schien mir dieser Posten genau die richtige Herausforderung für mich zu sein. Auch meine Frau war ohne Zögern mit mir nach Tripolis umgezogen. Wir waren uns bewusst, dass Wohnen und Arbeiten in Libyen nicht leicht sein würde, aber wir hatten ja schon in verschiedenen schwierigen Ländern gelebt.
Die ersten Monate waren dann auch recht hart. Selbst einfachste Besorgungen benötigten oft enorm viel Geduld und Energie, und wir mussten immer wieder Rückschläge einstecken, sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Bereich. Aber nachdem wir ein Jahr in Libyen gewohnt hatten, waren wir privat ganz gut eingerichtet und organisiert, und auch geschäftlich stellten sich erste Erfolge ein. Nie hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt vorstellen können, dass ich demnächst im Zentrum eines schwerwiegenden Konflikts zwischen Libyen und der Schweiz stehen würde.
Unzählige Personen haben dazu beigetragen, dass ich am Ende wohlbehalten nach Hause zurückkehren konnte. Es sind Leute aus verschiedenen staatlichen und nicht staatlichen Organisationen, Menschen aus der Schweiz und anderen Ländern, Personen, die ich persönlich kennen gelernt habe, und andere, die im Hintergrund ihren Beitrag geleistet haben und mir unbekannt blieben. Auch viele Freunde und Bekannte haben mich und meine Familie während dieser Zeit der Angst und Ungewissheit auf vielfältigste Art und Weise unterstützt. Ich kann sie hier nicht einzeln aufzählen, aber ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet.
Meine Frau, meine Mutter – mein Vater ist bereits verstorben – und meine drei Geschwister Moritz, Margrith und Christian waren während der dreiundzwanzig Monate einer enormen Belastung ausgesetzt und haben unter meiner Geiselnahme sehr gelitten. Wahrscheinlich sogar noch mehr als ich selber. Auch sie mussten den vielen bizarren Irrungen und Wirrungen in dieser Tragödie weitgehend machtlos zusehen. Aber sie haben nichts unversucht gelassen und keinen Aufwand gescheut, um eine Lösungsfindung zu begünstigen und meine Situation zu verbessern. Dafür bin ich ihnen zutiefst dankbar.
Auge um Auge, Zahn um Zahn
Anfang Juli 2008 reist Hannibal Gaddafi, Sohn des libyschen Diktators Muammar Gaddafi, zusammen mit seiner Frau Aline, dem gemeinsamen dreijährigen Sohn, zwei Hausangestellten und zwei Leibwächtern nach Genf. Die Gaddafis beziehen zwei Suiten im Nobelhotel President Wilson. Die hochschwangere Aline beabsichtigt, ihr zweites Kind in einer Genfer Klinik zur Welt zu bringen.
Am 12. Juli 2008 reichen die zwei Hausangestellten von Hannibal und Aline in Genf Anzeige wegen einfacher Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Entführung sowie Drohung und Nötigung gegen ihre Arbeitgeber ein. Sie kehren nicht mehr ins Hotel President Wilson zurück.
Am Morgen des 15. Juli beschließen der diensthabende Polizeikommissar und die Genfer Staatsanwaltschaft gemeinsam, zwei Vorführungsbefehle (»mandats d’amener«) gegen das Ehepaar Gaddafi auszustellen. Ende des Vormittags werden die beiden in ihrer Hotelsuite von einem Großaufgebot der Genfer Polizei verhaftet. Hannibal wird ins Untersuchungsgefängnis gebracht, während seine hochschwangere Frau Aline in einem Krankenhaus unter Arrest gestellt wird.
Am 16. Juli eröffnet der Genfer Untersuchungsrichter ein Strafverfahren gegen das Ehepaar Gaddafi wegen einfacher Körperverletzung, Drohung und Nötigung.
Am 17. Juli ordnet der Genfer Untersuchungsrichter die vorläufige Freilassung des Paars gegen Kaution an. Die Kaution für Hannibal wird auf 200 000 Franken und diejenige für Aline auf 300 000 Franken festgesetzt. Das Ehepaar Gaddafi verlässt die Schweiz noch gleichentags.
Aischa Gaddafi, Hannibals Schwester, ist inzwischen in Genf eingetroffen, um ihrem Bruder beizustehen. Sie verliest im Hotel President Wilson eine Erklärung, in der sie Vergeltung für die Verhaftung ihres Bruders ankündigt. Sie droht wörtlich mit »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Zu diesem Zeitpunkt realisieren wohl nur wenige Kenner des Gaddafi-Regimes, dass dies eine Kriegserklärung an die Schweiz ist.
Im Visier des Gaddafi-Clans
Samstag, 19. Juli 2008: Ahmed Sharata, mein Stellvertreter, ruft an und informiert mich, dass die für Firmenregistrierungen zuständige Behörde um ein Uhr zu einer wichtigen Besprechung in unser ABB-Büro in Tripolis kommen wird. Hausbesuche dieser Behörde sind völlig unüblich, und zudem ist ja Wochenende und die Büros dieser Behörde sind eigentlich heute geschlossen.
Was kann wohl so dringend sein? Im vergangenen Jahr hatten wir intensiven Kontakt mit dieser Behörde, da wir für die ABB-Gruppe nicht nur eine sogenannte Repräsentanz (auf Englisch »representative office«) neu registriert hatten, sondern auch langwierige Verhandlungen für die Eröffnung einer Niederlassung für ABB Italien führten.
Ahmed Sharata und Shebani Hadi, der in meinem Team für »Behörden-Kontakt« zuständig ist, warten schon auf mich, als ich beim ABB-Büro vorfahre. Pünktlich erscheinen drei Behördenvertreter. Das ist äußerst bemerkenswert, denn Pünktlichkeit ist in Libyen ein Fremdwort. Zwei der Besucher tragen Uniform, und einer ist in Zivilkleidung. Sie präsentieren eine Liste mit fünf Dokumenten, die wir haben sollten, um unsere Repräsentanz zu betreiben.
Ahmed und Shebani Hadi können vier der verlangten Dokumente vorlegen, das fünfte ist ihnen jedoch völlig unbekannt und demzufolge auch nicht vorhanden. Der Beamte in Zivil ist überhaupt nicht überrascht, dass wir das fünfte Dokument nicht haben. Ganz offensichtlich hat er genau das erwartet. Er sagt, da wir nicht alle notwendigen Bewilligungen hätten, müsse er unser Büro umgehend schließen, und wir dürften das Gebäude nicht mehr betreten. Zum Glück lässt er mich aber mein Notebook und ein paar Unterlagen aus meinem Büro holen, bevor er die Haupteingangstür versiegelt.
Wir sind ziemlich überrumpelt und ratlos. Ahmed, mein Stellvertreter, vermutet, dass die Firmenschließung mit der Verhaftung von Hannibal in Genf zusammenhängt. Wurde tatsächlich die ABB-Repräsentanz deswegen dichtgemacht? Heute können wir in dieser Angelegenheit nichts weiter unternehmen, deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Ich informiere aber Liliana Pescini, die Schweizer Vizekonsulin in Libyen, und Gian Francesco Imperiali, meinen direkten Vorgesetzten, der sein Büro in Mailand hat. Zudem informiere ich diverse ABB-Kollegen, die entweder in Libyen arbeiten oder sonst geschäftlich mit Libyen zu tun haben.
Ein Polizeiauto, drei Uniformierte
Abends um zehn Uhr klingelt die Hausglocke. Ein Polizeiauto und drei Uniformierte von der Einwanderungsbehörde stehen vor dem Eingangstor. Sie wollen mich zur Befragung mitnehmen. Zu dieser späten Stunde? Nun, Libyer sind ausgesprochene Nachtmenschen, und vieles wird spätabends erledigt. Auch Kundenmeetings hatten wir schon mitten in der Nacht.
Vom Gartentor aus rufe ich den Schweizer Konsul, Frédéric Schneider, an. Er kann mir keinen brauchbaren Ratschlag geben, lässt aber immerhin Hassan, den Übersetzer der Botschaft, mit den Polizisten sprechen. Danach rufe ich auch noch Ahmed Sharata an und bitte ihn, mit den Polizisten zu verhandeln. Die lassen sich aber nicht umstimmen und werden langsam ungeduldig. Es ist offenbar nichts zu machen, und ich muss mitgehen. Ich ziehe mich um, nehme wie verlangt meinen Pass mit und verabschiede mich von Yasuko, meiner Frau.
Wir fahren zu einer Polizeistation der Einwanderungsbehörde in der Nähe der Altstadt. Vom Auto aus rufe ich Ahmed an. Er hat aber schon mitgekriegt, wo ich hingebracht werde, und ist sogar schon dort, als wir ankommen. Zum Glück weiß jetzt wenigstens jemand, wo ich bin! Ahmed darf aber das Gelände der Polizeistation nicht betreten. Die Polizisten lassen mich etwa eine Stunde im Auto warten, bevor ich ins Gebäude gebracht werde.
Dort muss ich den Pass abgeben, und dann werde ich befragt: Name von Vater, Mutter, Großvater, Einreisedatum, Wohnadresse, wo ich arbeite und so weiter und so fort. Nach der Befragung muss ich Mobiltelefon und Gurt abgeben, danach werde ich in eine Zelle gebracht. Dort ist das Licht an, eine Klimaanlage läuft, und es gibt vier Metallbettgestelle mit dünnen Matratzen. Drei der Betten sind bereits belegt. Zwei der Häftlinge schlafen, der dritte ist wach und recht gesprächig. Er ist aus Indien und arbeitet für die Genfer Firma P & S Products and Services SA, die medizinische Geräte vertreibt. Auch diese Firma wurde heute durch die libyschen Behörden geschlossen.
Der Inder sagt, dass die zwei schlafenden Zellengenossen auch beide für Schweizer Firmen arbeiten würden. Der eine ist Bulgare und arbeitet als Wächter. Der andere heißt Rachid Hamdani und ist tunesisch-schweizerischer Doppelbürger. Ahmed hatte wohl recht, es sieht tatsächlich so aus, als hätten die Firmenschließungen und die Verhaftungen mit dem Hannibal-Vorfall in Genf zu tun. Die Beziehung Schweiz – Libyen war in den letzten Jahren eigentlich gut, und ich bin zuversichtlich, dass die Schweiz umgehend alles Notwendige in die Wege leiten wird, um die aufgebrachten Libyer baldmöglichst zu beschwichtigen.»
Max Göldi sollte sich täuschen, er betrat erst nach 695 Tagen wieder Schweizer Boden. Dazwischen liegt eine Geschichte, die er jetzt, acht Jahre nach seiner Freilassung, publik macht. Sein Buch «Gaddafis Rache – Aus dem Tagebuch einer Geisel» hat einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.
Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
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