Sprachpfleger «Er ist's» – Mörikes Frühlings-Dadaismus

Mark Salvisberg

2.4.2019

Flattert das blaue Band und träumen die Veilchen, ist's Frühling.
Flattert das blaue Band und träumen die Veilchen, ist's Frühling.
Bild:  iStock

Oft wurde der Frühling herbeigeredet. Jetzt ist er da – besser gesagt: Dada! Denn auf einiges, was Eduard Mörike 1829 in seinem Frühlingsgedicht geschrieben hat, kann man sich keinen Reim machen. Der Sprachpfleger mit einer Analyse jenseits von Reimschema und Versmass.

Er ist's

Der kürzestmögliche Titel. Ich mag nicht widersprechen.

Frühling lässt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte

Warum ist der Frühling nicht grün? Um welches blaue Band handelt es sich denn, und das seltsame Ding flattert auch noch? – Es beginnt schon beim Wasserhahn: Blau symbolisiert Kühle. Da ist es nicht mehr weit bis zu Lenzes frischer Luft. Und mit dem blauen Band ist wohl der Himmel als Medium des frühlingshaft Flirrenden und Flatternden gemeint. Zu guter Letzt unterstützt der Stabreim das lautmalerische «Flattern» und lenkt unsere Gedanken auf alles, was da fliegt und summt.

Süsse, wohlbekannte Düfte

Streifen ahnungsvoll das Land

Wie bitte? Düfte streifen das Land – ahnungsvoll? Mörike gibt den Pollen tatsächlich ein Bewusstsein. Dabei sind deren Düfte, so betörend, schwer oder leicht sie auch sein mögen, unpersönlich, tot, passiv; sie werden nur abgegeben, sind von Natur aus ahnungslos. Logisch betrachtet also Unsinn. – Aber Mörike stellte sich vielleicht vor, dass in den Düften etwas Göttliches stecke, das die Pflanzenwelt auf magische Weise beeinflusse. Der Dichter war übrigens Theologe ...

Veilchen träumen schon

Mörike spendiert somit auch ihnen ein Gehirn. Geht das? – Die Blümchen hat er in seinem Schwelgen personalisiert. Ein Dichter darf, ja muss das machen. Ausser für den Frühling steht das Veilchen für Hoffnung und Fruchtbarkeit. Sigmund Freud sah in jener Blume, was mich nicht sonderlich überrascht: ein Symbol für Sex.

Wollen balde kommen

Ist da nicht in uns allen jenes Veilchen, das geschwind der Sonne entgegenspriessen möchte? – Fürwahr. Auch im Frühlingsgedicht von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, übrigens zur selben Zeit verfasst, heisst es: «Nur die Veilchen schüchtern wagen aufzuschau'n zum Sonnenschein ...»

Weiter mit Mörike:

Horch, von fern ein leiser Harfenton!

Andreas Vollenweider beim Soundcheck? Nein, es sind Klänge von Natursaiten – Vogelstimmen. Die Harfe (die Lyra lässt grüssen) ist eng mit der Dichtkunst verbunden. Hat sich der Poet mit diesen Zeilen selbst gefeiert? Wegen ihrer runden Form hat das Instrument für viele auch eine – nicht schon wieder! – sexuelle Konnotation.

Frühling, ja du bist's!

Dich hab' ich vernommen!

Mörike zeigt seine Freude, so auch wir. Schönen Dank dem Dichter für dieses facettenreiche kleine Kunstwerk; der Abstecher ins Irrationale sei ihm verziehen.

Zur Person: Mark Salvisberg war unter anderem als Werbetexter unterwegs. Der Absolvent der Korrektorenschmiede PBS überarbeitet heute
täglich journalistische Texte bei einer grösseren Tageszeitung.

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