GefängniszeitungUnzensierte Gefängniszeitung: Diese Gefangenen tun was sie wollen
Bruno Bötschi
6.11.2018
«Lichtblick» aus der Strafanstalt Tegel in Berlin: Die Redaktion der weltweit einzigen unzensierten Gefangenenzeitschrift macht seit 50 Jahren, was sie will. Ein Telefon-Interview mit dem Chefredaktor.
An der Wand hängen Zeitungsartikel und Karikaturen. Im Büchergestell steht der Duden neben dem Strafgesetzbuch. Auf den Tischen: Computer, Zeitungen und Kafffeetassen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde die Fotografie eine Lokalredaktion zeigen – wären da nicht die Gitterstäbe vor den kleinen Fenstern.
Norbert Kieper ist Gefängnisinsasse und Chefredaktor von «Lichtblick», der grössten unzensierten Gefängniszeitschrift Europas. Dass die Anstaltsleitung in der JVA Tegel in Berlin der Redaktion freie Hand lässt, ist ungewöhnlich.
Kieper schreibt und recherchiert zusammen mit drei Kollegen. Die «Lichtblick»-Redaktion ist in zwei Zellen untergebracht. Alle drei Monate entsteht hier eine neue Ausgabe. 60 Seiten, 8‘000 Exemplare Auflage, 40'000 Leserinnen und Leser. Der «Lichtblick» geht an Gefängnisse, Anwälte und Medienhäuser in ganz Europa; sogar in den USA, Australien und Südafrika gibt es Abonnenten.
Herr Kieper, Sie und Ihre Redaktionskollegen sind Experten im Knast, mehr als jeder Professor.
Dem ist leider so. Als Redaktion einer Gefangenenzeitschrift müssen wir uns zwangsläufig mit diesen Themen beschäftigen. Das ist unser Job.
Der «Lichtblick»versteht sich als Sprachrohr der Gefangenen. In der aktuellen Ausgabe gibt es eine Geschichte mit dem Titel «Wir fordern die sofortige Wiederinbetriebnahme der Desinfektion in der JVA Tegel!». Ist das eine typische «Lichtblick»-Story?
Ja, es ist eine typische Geschichte. Wir weisen oft auf Missstände hinter Gitter hin. Noch nicht lange her ist zum Beispiel die Story über unsaubere Schaumstoff-Matratzen in den Zellen. Unter den Insassen gab es immer wieder Fälle von Hepatitis, Lungenentzündungen und andere Infektionskrankheiten. Irgendwann entdeckten wir, dass Putztrupps in die JVA Tegel kommen, die die Zellen aussprühen und dabei Mundschutze tragen. Das machte uns stutzig. In der Folge fingen wir an nachzuforschen, fragten unter anderem beim Gesundheitsamt nach.
Stimmt es, dass Ihre Redaktion ohne Internet auskommen muss?
Noch. Es gibt jedoch Signale, dass sich demnächst etwas ändern könnte. Diese Woche findet im Gefängnis der Festakt zum 50. Geburtstag unserer Zeitschrift statt. Dafür hat sich auch der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt angemeldet. Mal sehen, was er berichten wird. Wir sind auf jeden Fall guter Hoffnung.
Wie recherchieren Sie ohne Internet?
Es bleibt uns nicht anders übrig, als recherchieren zu lassen: Wir haben uns ausserhalb der Mauern ein Netzwerk aus Familie, Freunden und Informanten aufgebaut, die für uns ins Internet gehen können. Das ist zwar etwas umständlich, aber es funktioniert.
Ganz persönlich: Welche war Ihre beste Schlagzeile?
Eine Geschichte, die für viel Aufsehen gesorgt hat, war unsere Petition in Sachen Isolationshaft in der JVA Tegel. Schlussendlich erreichten wir damit, dass der Hof für die Gefangenen etwas grösser gestaltet wurde.
Wen würden Sie gerne einmal interviewen?
Unser grösster Wunsch ist ein Gespräch mit Justizsenator Dirk Behrendt. Er wollte uns bisher nur ein Interview per E-Mail gewähren. Das lehnten wir ab. Wir werden unser Anliegen aber nächstens nochmals bei ihm vorbringen.
Der «Lichtblick»erscheint unzensiert. Das ist einmalig inDeutschland, wahrscheinlich sogar weltweit. Aber was heisst das konkret: Kontrolliert die Anstaltsleitung wirklich gar nichts? Nicht einmal den Versand?
Das unser Heft unzensiert erscheinen darf, ist wirklich einmalig und kann gar nicht oft genug betont werden. Seit über zwei Jahren haben wir zudem eine externe Druckerei. Es hat also wirklich niemand von der Anstaltsleitung vor Drucklegung Zugriff auf den Inhalt des Heftes.
Gab es schon gröbere Differenzen wegen einer Story im «Lichtblick»mit der Anstaltsleitung?
Die gibt es immer wieder. Aber erst einmal in 50 Jahren wurde ein Heft vor dem Versand eingestampft.
Warum?
Auf dem Cover war eine gewaltverherrlichende Szene zu sehen.
Im «Lichtblick»erscheinen viele düstere Texte über das Leben hinter Mauern und Stacheldraht.
Wir wundern uns manchmal, warum die Reaktionen von ausserhalb meistens sehr verhalten sind. Aber wahrscheinlich gelangt vieles nicht zu uns, weil die Diskussionen hintenherum geführt werden. Und das bekommen wir natürlich im Gefängnis nicht mit. Was wir hingegen mibekommen haben, das sind die Reklamationen wegen der nackten Frauen, die wir regelmässig in der Mitte des Heftes abdrucken. Es wurden deswegen auch schon Abos gekündigt, unter anderem von der Berliner Senatsverwaltung. Den Kündigungsbrief haben wir uns an die Wand gepinnt. Seit kurzem drucken wir übrigens auch Bilder von Männern ab.
Ebenfalls nackt?
In Badehose.
Die Anstaltsleitung kann ohne Rückfrage die Redaktionsräume durchsuchen lassen. Wie oft ist das in den letzten Jahren passiert?
Das letzte Mal geschah das vor vier Jahren. Es gab damals einen riesigen Wirbel wegen eines angeblichen Kinderporno-Skandals. Uns wurde unterstellt, wir hätten Porno-CDs gebrannt. Die Redaktion wurde daraufhin für sieben Wochen geschlossen. Am Ende wurde nichts auf unseren Servern gefunden – und der Vorfall löste sich in Luft auf.
Wie zufrieden sind die Gefangenen mit dem «Lichtblick»?
In der JVA Tegel spüren wir reichlich Gegenwind. Immer wieder sagen Insassen, wir müssten schärfer schreiben, wir müssten mehr draufhauen. Wenn wir die Leute dann um Leserbriefe bitten, kommt aber meist nicht viel zurück. Von der restlichen Leserschaft in Deutschland bekommen wir ein deutlich positiveres Feedback.
Geht es den Leuten in der JVA Tegel zu gut? Oder geht es ihnen zu schlecht?
Sowohl als auch. Es gibt Insassen, die haben seit Jahren innerhalb der Anstalt einen guten Job, zum Beispiel in der Glaserei oder der Polsterei, und sie freuen sich darüber, weil sie ordentlich verdienen. Aber dann gibt es natürlich auch die Taschengeld-Empfänger, bei denen oft die Drogenproblematik alles andere überwiegt.
Können Sie eigentlich über den Witz mit der Seife in der Dusche noch lachen?
Nein, darüber kann ich gar nicht lachen, weil es ein abgegriffenes Klischee ist, und mittlerweile gibt es auf jeder Station zwei Duschen und keine Grossraumduschen mehr.
Freundschaft mit Wärtern – geht das? Und wie kommt das an bei den anderen Insassen?
Das geht gar nicht. Die Wärter dürfen mit den Insassen nicht zu freundlich sein, weil sie sonst den Respekt verlieren. Andererseits sollten die Wärter den Insassen hilfreich zur Seite stehen. Aber das können sie aus Zeitgründen gar nicht leisten. Ich denke, ein näherer Kontakt ist von beiden Seiten nicht gewollt. Und das ist auch besser so.
Ist YouTube die Gefängniszeitung des 21. Jahrhundert? Anders gefragt: Was halten Sie von dem Tegel-Insassen, der Videos direkt aus seiner Haftzelle auf YouTube laden konnte?
Davon halte ich gar nichts. Es ist ein einmaliger Fall. Der Mann sitzt jetzt in Isolationshaft. Die Anstaltsleitung war total sauer über den Vorfall. Die haben natürlich Angst, dass auf diesem Weg Ablaufpläne nach draussen gelangen könnten und so die Sicherheit und Ordnung gefährdet wäre.
Wer entscheidet, wer auf der «Lichtblick»-Redaktion mitarbeiten darf?
Das erste Wort hat die Redaktion. Wir schauen uns interessierte Leute jeweils sehr genau an, schliesslich müssen wir mit ihnen zehn Stunden pro Tag in einem Raum sitzen. Danach schreiben die Interessenten einen Probeartikel. Die Anstaltsleitung überprüft dann alles aus sicherheitstechnischer Sicht und zeigt uns Daumen hoch oder runter. In der Vergangenheit wurden auch schon Leute abgelehnt. Das fanden wir sehr schade, denn sie hätten gut in unser Team gepasst. Deshalb haben wir momentan auch einige Nachwuchsprobleme auf der Redaktion.
Welcher Gefangene darf keinesfalls Redaktor des «Lichtblick» werden?
Unser Kodex lautet: Wir möchten keine Insassen im Team haben, die Sexualstraftaten begangen haben. Mit solchen Menschen möchten wir nicht zusammenarbeiten. Die Anstaltsleitung sieht es zudem nicht gern, wenn Menschen auf der Redaktion arbeiten wollen, die ein Betrugsdelikt begangen haben – da es sich um einen Vertrauensarbeitsplatz mit Telefon, Computer und Fax handelt.
Ein «Lichtblick»-Redaktor sagte in einem Zeitungsinterview: ‹Hier zu sein, ist ein Ausstieg aus dem Knast für mich.› – Was bedeutet Ihnen die Arbeit auf der Redaktion?
Der Mann hat recht. Wir werden von Jura-Professoren und Journalisten besucht, hin und wieder sind auch Fernsehteams zu Gast. Wir haben also viel Kontakt nach draussen, das sorgt für Abwechslung.
Im «Lichtblick»gibt es Kontaktanzeigen. Welchen Weg nimmt es, wenn jemand von aussen zum Beispiel auf den Ehewunsch eines Insassen reagiert?
Diese Briefe werden von uns weitergeleitet. Was sich daraus ergibt, erfahren wir nur selten. Aber mindestens in zwei Fällen wurde am Ende Hochzeit gefeiert.
Was haben Sie vor Ihrem Gefängnisaufenthalt gearbeitet?
Ich war Finanzbeamter.
Und was sind Ihre drei Redaktionskollegen von Beruf?
Einer war in der Baubranche tätig, einer arbeitete als Finanzbuchhalter, und einer war Maler. Keiner von uns hatte etwas mit der schreibenden Zunft zu tun.
Weshalb sitzen Sie in der JVA Tegel ein?
Ich habe mich zum Witwer gemacht.
Wie langen müssen Sie im Gefängnis bleiben?
Lebenslänglich. Ich bin seit sieben Jahren im Knast, seit fünfeinhalb Jahren in Tegel.
Besteht die Chance, dass Sie die JVA Tegel irgendwann wieder verlassen können?
Die Mindestverbüssungsdauer ist 15 Jahre. Das heisst, ich könnte bei einem guten Haftverlauf im Dezember 2026 wieder rauskommen. Ich hoffe jedoch, dass ich bereits früher in den offenen Vollzug eintreten darf.
Was denken Sie, wird unser Telefongespräch abgehört?
Nein. Über das Thema «Abhören» wurde schon viel diskutiert. Wir wissen, dass abgehört werden kann. Aber der Aufwand dafür ist extrem hoch.
Jubiläumsausgabe
Die «Lichtblick»-Geburtstagsausgabe kann unter folgendem Link gelesen werden.
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