Stephan Rey erhielt erst mit 45 die Diagnose ADHS. Jetzt hat der gelernte Pflegefachmann ein Buch darüber geschrieben, wie sein Leben mit und ohne Ritalin aussieht.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist lange Zeit unbekannt. Stephan Rey eckt mit seiner Eigenart immer wieder mal an, ohne dass man seine Auffälligkeiten richtig einordnen kann. Er gilt als auffällig und «stört».
Die Eltern und die Lehrpersonen sind der Meinung, dass man verhaltensauffälligen Kindern allein durch Erziehung helfen kann. Erst als Mittvierziger erhält Rey die Diagnose ADHS. Bald darauf beginnt die für ihn richtige Therapie und somit auch ein neues Leben.
«blue News» publiziert exklusiv das Kapitel «Selbsttherapie». Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «blue News»-Regeln.
Selbsttherapie
Bereits in jungen Jahren entwickelte ich die Angewohnheit, an den Wochenenden einige Gläser Bier oder Rotwein zu trinken. Es war vor allem die beruhigende Wirkung des Hopfens oder des roten Beerensafts, der mich jeweils über die kommende Arbeitswoche hinwegtröstete und somit friedlich stimmte.
Viele Leute halten es ähnlich. Sie kippen mit Freunden ein Glas zum Genuss. In meinem Fall muss man das im Nachhinein allerdings etwas anders interpretieren. Die Trinkgelage an den Wochenenden linderten Symptome meines damals noch nicht diagnostizierten ADHS, die eine direkte Auswirkung auf meine Lebensqualität hatten.
Balsam für die Seele
Ich kann es zwar nicht mehr zu hundert Prozent beurteilen, ob ich damals ein veritables Alkoholproblem hatte, aber das unselige Unterfangen, alle fünf bis sechs Tage einen mittleren Absturz mit Alkohol herbeizuführen, beunruhigte mit der Zeit nicht nur mich, sondern auch meine damalige Lebenspartnerin Hanna.
Ich lernte meine Freundin kennen und schätzen, als ich 33 Jahre alt war. Hanna teilte meine Begeisterung fürs Reisen, und wir hatten auch hinsichtlich gesellschaftspolitischer Themen eine ähnliche Ansicht. Natur und Nachhaltigkeit waren uns wichtig. In der Arbeit sahen wir nicht nur die Erfüllung materieller Wünsche, sondern auch eine Möglichkeit, die Welt zu erforschen. Und so kam es, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Partnerin zusammenzog.
Das Leben unter einem gemeinsamen Dach machte mich in vielerlei Hinsicht glücklich. Gleichzeitig wurde mir aber bewusst, wie sehr mein Alltag bis dato reglementiert gewesen war. Mit ein wenig gutem Willen, so dachte ich damals etwas naiv, würde ich meine Marotten schon bald hinter mir lassen können.
Starre Regeln
Mein guter Wille stellte sich aber alsbald als frommer Wunsch heraus. Ich war als Lebenspartner verbindlich und verantwortungsbewusst, doch es gab auch die Seiten an mir, die den Frieden in den eigenen vier Wänden nachhaltig störten. Während meiner Weiterbildung zum Pflegefachmann wurde es besonders schlimm. Ich versuchte, meiner Vergesslichkeit mit Eselsbrücken Einhalt zu gebieten.
Dabei entwickelte ich verschiedene Taktiken, Informationen in schriftlicher Form auswendig zu lernen. Ich verfolgte weiterhin meine Regeln und Routinen, denn sie gaben mir Halt und ordneten mein Leben zumindest im Außen. Im Zusammenleben mit Hanna wurde mir aber schmerzlich bewusst, dass mein Verhalten immer mehr zwanghafte Züge aufwies. Zudem fing ich an, ungehalten zu reagieren. Wenn Hanna die Kleberolle wiederholt nicht in das vorgesehene Fach in der Schreibtischschublade zurücklegte, wurde ich sauer. Und wenn die Müsli-Dose nicht auffindbar war am richtigen Ort, hing der Haussegen schief.
Meine Partnerschaft war dadurch belastet. Mein Verhalten führte leider oft zu Stress und Diskussionen. Hanna pochte mit dem gleichen Recht, wie ich mehr Ordnung einforderte, auf etwas mehr Gelassenheit. Ich konnte aber nichts ändern an meinen Marotten, obschon ich das gerne für Hanna getan hätte. Ich war mir nicht darüber bewusst, dass sich meine Lebensgefährtin dadurch stark eingeschränkt fühlte.
Unsere unterschiedlichen Arbeitszeiten erwiesen sich allerdings als Glücksfall. Ich arbeitete in verschiedenen Schichten in einem Spital in der Abteilung für Demenzkranke. Das hatte zur Folge, dass ich tagsüber die Wohnung auch mal für mich allein hatte. Ich konnte währenddessen schalten und walten, wie es mir beliebte. Meine Partnerin arbeitete auch Schicht als Betreuerin in einem Behindertenheim. Sie hatte zudem viele Freundinnen und war dadurch auch an den Abenden nicht selten unterwegs. Das sorgte für zusätzliche Entspannung. Da wir nicht rund um die Uhr aufeinanderhockten, konnten wir uns prima auf die positiven Aspekte unseres Zusammenseins konzentrieren. Wir führten trotz der vielen Unterschiede eine recht harmonische Beziehung.
Es kam die Zeit, wo wir eine große Reise planten, die uns auf dem Landweg nach Südostasien und danach nach Indien führen sollte. Fast zwei Jahre wollten wir unterwegs sein, um Land und Leute richtig kennenzulernen. Es war uns klar, dass wir uns mit Zug, Bus und Autostopps nur gemächlich fortbewegen würden. Im Zuge der Reisevorbereitungen machte mich Hanna auf meinen Alkoholkonsum aufmerksam, und ich begann mich selber kritisch zu hinterfragen.
Da ich die Parameter für Alkoholismus der WHO gut kannte, konnte ich die einzelnen Stufen und Definitionen konkret benennen. In meiner ersten Ausbildung im Alter von 22 Jahren wurde ich mit schwer abhängigen Alkoholikern konfrontiert. Es gibt die, pardon, Quartalsäufer, und bei den Schweregraden wird ein Alkoholiker zwischen Alpha und Gamma eingeteilt.
Doch hatte ich mich einzuordnen? Und wenn ja, wo? War ich überhaupt ein klassischer Trinker? Und falls ja, gehörte dann nicht jeder zweite Schweizer oder jede zweite Schweizerin in diesen Club? Es wurde mir zum Glück mehr und mehr bewusst, dass ich nicht aufs große Ganze schauen musste, sondern lediglich auf mich und meinen Umgang mit dem Alkohol.
Trinkfeste Russen
Unsere erste Reiseetappe führte Hanna und mich nach Russland. Alsbald wurden wir mit den überbordenden Trinkgelagen der einheimischen Männer konfrontiert, die vor allem Wodka in rauen Mengen konsumierten. Das ungezügelte Verhalten stieß mich instinktiv ab. Dabei spiegelten sie etwas, das ich wiederholt verdrängte. Die Ermahnungen meiner Partnerin führten dazu, dass ich seit diesem gemeinsamen Russland-Aufenthalt, also seit 2003, bis heute höchstens zum Anstoßen Alkohol konsumiere und somit zum reinen Genusstrinker mutierte, der seine Grenzen kennt.
An meinen ausgedehnten Aktivitäten änderte sich allerdings nichts, und Hanna wurde mein dichtes Sightseeing-Programm in den folgenden Monaten oftmals zu viel. Wenn es ihr zu bunt wurde, blieb sie einfach in unserer Unterkunft oder sie ging ihre eigenen und weniger aufgeregten Pfade. Ich setzte meine hochgesteckten Pläne freilich um und konnte mich in diesem Sog maßlos über zahlreiche Details aufregen, die auf mich einprasselten. Gleichzeitig blieb ich in meinem äußerst lebendigen Gedankenkäfig gefangen, was mich zusätzlich beunruhigte, wenn nicht sogar aufwiegelte.
Meinen gesteigerten Antrieb und meine Ruhelosigkeit brachte ich auch in Zusammenhang mit meiner selbst auferlegten Alkoholabstinenz. Mir fehlte der scheinbar beruhigende Effekt von Bier und Wein, der meiner Meinung nach die gröbsten Spitzen meiner Unruhe brechen konnte.
Bibliografie: Warum zum Teufel Ritalin? Diagnose ADHS – Mein Leben mit und ohne Medikamente, Stephan Rey, Cameo, 223 Seiten, 26.90 Fr.