Hass auf GeräuscheMisophonie – wenn Schmatzen und Schlürfen zur Folter werden
dpa
8.3.2019
Das Krachen der Nachos wird zur Qual, das Knacken der Rüebli zum Horrortrip – und erst das Schniefen zwischen jedem Biss in den Burger: Es provoziert grenzenlose Wut. Wer bei Ess-Geräuschen seiner Mitmenschen durch die Hölle geht, leidet unter Misophonie.
Es schmatzt, schlürft und knackt – und ist kaum zu ertragen. Die speziellen Sound-Effekte, die man beim Essen mit Zunge, Kiefer und Mund verursacht, treiben manche Menschen in den Wahnsinn. Wem es so geht, der leidet eventuell unter Misophonie.
Der Name setzt sich aus dem griechischen «Misos» für Hass und «Phone» für Geräusch zusammen: «Hass auf Geräusche» also. Misophoniker können auch auf andere Auslöser anspringen, etwa das Hämmern des Kollegen auf Computertastaturen. Aber die Mehrheit erträgt keine Kaugeräusche.
«Ich kann es nicht haben, wenn ich Mama essen höre. Darf ich das Radio anmachen?» Mit diesem Satz schockte Jelle Homrighausen als Zwölfjähriger seine Eltern am Mittagstisch. Wenig später fing er an, alle Situationen zu meiden, bei denen gegessen wurde.
«Am Tisch habe ich mich möglichst weit weg gesetzt von meiner Mutter. Ich bekam schon Wut, wenn ich nur ihre Kieferbewegungen sah. Dann habe ich auf meinen eigenen Teller gestarrt und bin so schnell wie möglich aufgestanden», erzählt Homrighausen. Das Schlimmste für ihn sind Kaugummi kauende Menschen.
Andreas Seebeck, sein Vater und ein psychotherapeutischer Heilpraktiker, erkannte in den Symptomen seines Sohnes schnell Anzeichen einer Phobie. «Ich nannte sie Kauphobie. Doch keine Therapie half», erinnert sich Seebeck. Was folgte, war eine jahrelange Tournee von Therapeut zu Therapeut, von Psychologe zu Psychologe. Unterbrochen von Anti-Aggressionsseminaren, Hypnosesitzungen und Klopftherapien.
Wut-Areale im Gehirn werden gereizt
«Nichts hat etwas gebracht. Ganz im Gegenteil. Gerade durch Konfrontationstherapien, mit denen Phobien behandelt werden, wurde alles noch viel schlimmer», so Seebeck. Inzwischen weiss er, warum: Misophonie sei ein erworbener Reflex, bei denen Muskelreaktionen eine Rolle spielen. «Die Muskeln aktivieren den Bereich des Gehirns, der für Wut verantwortlich ist. Das ist der Unterschied zu Menschen, die einfach nur ein Geräusch nicht mögen.»
Weil es in Deutschland weder Wissen noch Literatur über Misophonie gab, machte sich der Therapeut im Ausland schlau. Er fand Erklärungen in einem Misophonie-Buch des Amerikaners Thomas Dozier. «Ich war verblüfft, wie viele Leute daran leiden. Internationale Studien schätzen vorsichtig, dass jeder 10. bis 20. auf Geräusche anspringt, die er nicht aushalten kann», sagt Seebeck.
Das Phänomen unterschätzt hatte auch die Universität Bielefeld: Um herauszufinden, ob es sich um eine psychische Störung handelt oder um ein Begleitsymptom einer anderen Erkrankung, startete Wissenschaftlerin Hanna Kley 2018 eine Studie zu Misophonie. Statt 20 bis 30 gesuchter Probanden meldeten sich innerhalb kürzester Zeit 200 Menschen bei der Psychologischen Psychotherapeutin.
Zugfahren wird zur Qual
Kley: «Wir haben in einem ersten Schritt Interviews mit Betroffenen geführt, die angaben, unter ihrer Geräuschempfindlichkeit, zum Beispiel in Bezug auf Kaugeräusche, so sehr zu leiden, dass sie sich im Alltag eingeschränkt fühlen.» Das könne etwa dann der Fall sein, wenn Menschen vermeiden, Bus oder Bahn zu fahren – es könnte ja jemand neben ihnen eine Brötchentüte auspacken.
Auffällig ist für Kley schon jetzt, dass sich die Geräuschempfindlichkeit besonders oft auf nahestehende Angehörige konzentriert. «Das belastet zusätzlich, weil die Betroffenen ausgerechnet gegenüber geliebten Menschen in bestimmten Momenten Wut und Hass empfinden.»
Andreas Seebeck versucht inzwischen selbst, Misophonikern zu helfen. Er sammelt Erfahrungen mit einer Methode, die Wissenschaftler der Universität Amsterdam entwickelt haben, indem sie die auslösenden Geräusche verfremden, sie schneller oder langsamer, höher oder tiefer abspielen. Das könne leichte Verbesserungen bringen.
Sein Sohn mag nichts mehr ausprobieren. Bei ihm ist über die Jahre noch eine Depression dazugekommen. «Seit ich Medikamente dagegen nehme, ist wenigstens die extreme Wut weg», gesteht der heute 27-Jährige.
Zusammenhang mit Depressionen?
«Ein Zusammenhang zwischen Misophonie und Depression wird in einigen wenigen Studien nicht ausgeschlossen. Doch die Forschung steht noch ganz am Anfang, auch bei der Frage, welche Behandlung für dieses spezielle Phänomen wirksam ist», sagt Kley und dämpft Hoffnungen auf schnelle Behandlungsrezepte.
Für Andreas Seebeck ist es schon sehr wertvoll, wenn Eltern Verständnis für betroffene Kinder zeigen – und sie nicht zwingen, am Esstisch sitzen zu bleiben, schlimmstenfalls noch mit dem Spruch «Reiss dich jetzt mal zusammen». Das könne die misophonische Reaktion noch verschlimmern und der Misophonie einen weiteren Auslöser hinzufügen.
Literatur: Misophonie verstehen und überwinden, Thomas H. Dozier, Lotus Press, 182 Seiten, ISBN 978-3945430545, ca. 19.90 Fr.
Panikattacke: Wenn die Angst vor der Angst das Leben beherrscht
Eine Panikattacke kann völlig unerwartet – quasi aus dem Nichts – und ohne erklärbaren Grund auftreten.
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Innerhalb weniger Minuten erlebt der Betroffene ein intensives Gefühl von Angst bis hin zur Todesangst.
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Treten darüber hinaus mindestens vier der folgenden Symptome auf, spricht vieles dafür, dass es sich beim erlebten Phänomen um eine Panikattacke handelt. Dazu gehören …
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… ein stark wahrnehmbarer Herzschlag, Herzrasen, Atemnot, Gefühlsstörungen, Zittern, Schwindel, Kältegefühl, Hitzewallungen, starkes Schwitzen, ein einengendes, beklemmendes Gefühl im Brustraum sowie diffuse Wahrnehmungsstörungen wie Entfremdung (die ganze Situation erscheint unwirklich).
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Oft wissen die Betroffenen nicht, wie ihnen geschieht: Sie vermuten hinter den als lebensbedrohlich wahrgenommenen Anzeichen einen Herzinfarkt oder Schlaganfall.
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In der Regel besteht kein Grund zur Sorge, dennoch sollte man sich beim Arzt durchchecken lassen, um eine organische Ursache auszuschliessen. Auch bestimmte Medikamente können Panikattacken begünstigen.
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Versuchen Sie ruhig zu bleiben. Eine Panikattacke verschwindet meist so schnell wieder, wie sie gekommen ist: Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorüber. In seltenen Fällen können die Symptome über mehrere Stunden anhalten.
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Jeder Fünfte wird mindestens einmal im Leben von einem der gefürchteten, anfallartig auftretenden Angstmomente heimgesucht. Dabei wird ein Schutzmechanismus ausgelöst, der auf dem evolutionären Prinzip «Kampf oder Flucht» («fight or flight») beruht.
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Wissenschaftlich konnte noch nicht abschliessend geklärt werden, warum es zu einer Panikattacke kommt. Neben genetischen Faktoren spielt die Dysbalance von Neurotransmittern eine Rolle. Letztere übertragen Reize zwischen zwei (Nerven-)Zellen.
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Wer mehrfach beziehungsweise mindestens eine Attacke im Monat erlebt, sollte sich an die Hausärztin, den Hausarzt oder eine psychiatrische beziehungsweise psychologische Fachperson wenden. Eventuell liegt den unangenehmen Anfällen eine Panikstörung zugrunde. Während einer Therapie lernen Betroffene, sich bewusst ihren Ängsten zu stellen.
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Panikstörungen gehören zu den Angststörungen. Sie sind relativ häufig. Gemäss der Schweizer Behindertenorganisation Pro Infirmis sind etwa 800'000 Menschen in der Schweiz von einer Angststörung betroffen.
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