Weiterleben mit dem Virus«Den Bundesrat im Nachhinein kritisieren? Das wäre zu einfach»
Von Anna Kappeler
17.9.2020
Das Coronavirus zwingt allen einen neuen Alltag auf – schon seit einem halben Jahr. Buschauffeur Fritz Haenni erzählt, warum für ihn eine Plexiglasscheibe gleichbedeutend mit Zufriedenheit ist. Und warum er die Regierung nicht tadeln mag.
«Mir geht es ganz gut, zum Glück. Sorgen bereiten mir die steigenden Fallzahlen der letzten Wochen, hoffentlich gibt es keinen zweiten Lockdown mehr. Obwohl, einen solchen kann sich in der Schweiz niemand mehr leisten, so weit wird es der Bundesrat nicht kommen lassen. Angst habe ich keine, dafür bin ich viel zu pragmatisch.
Ich arbeite 100 Prozent als Buschauffeur in Fribourg bei den Freiburgischen Verkehrsbetrieben TPF. Das Schönste finde ich, dass die Menschen zurück auf der Strasse und in den Bussen sind. Das war ja kein Zustand in den Nachtschichten, als ich durch das gespenstisch verlassene Fribourg fahren musste. Nein, nein, das war gar nicht meins. Zum Glück haben wir heute keine solche Zombiestadt mehr.
Aber ja: Manchmal hat man einfach genug von diesem blöden Virus. Aber wir bei den TPF haben Glück: Die Zusammenarbeit mit der Direktion war in der Coronakrise von Anfang an sehr gut.
Mit Maske beim Fahren wäre die Stimmung schlechter
Ein Beispiel: Bereits eine Woche, bevor das ÖV-Maskenobligatorium vom Bundesrat erlassen wurde, konnten wir eine andere Lösung für uns Fahrer finden. Wir haben in jedem Bus Plexiglasscheiben montiert, sodass die Fahrer nun vor möglichen Ansteckungen durch Passagiere geschützt sind. Busfahren mit einer Maske – das gibt Kopfweh wie verrückt, das geht gar nicht.
Zur Person
Bild zVg
Fritz Haenni ist Buschauffeur in Fribourg bei den Transports Publics Fribourgeois TPF. Zudem ist der 57-Jährige Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals für die TPF.
Ich bin ja auch Ausbildner, und da tragen wir logischer- und richtigerweise zusätzlich eine Maske, weil wir den Hygieneabstand zueinander nicht einhalten können. Deshalb weiss ich, wie Fahren mit einer Maske ist. Gerade bei Brillenträgern mit ewig anlaufenden Gläsern: Das ist kein Spass.
Müssten wir mit Maske fahren, ich bin sicher, die Stimmung wäre eine ganz andere. Jetzt ist sie gut, man arrangiert sich.
Ich sehe das bei meiner Freundin, die einen Coiffeur-Salon führt. Sie und ihre Angestellten müssen den ganzen Tag Maske tragen. Das ist wirklich anstrengend, sie hat viel Kopfweh seither. Gerade hat sie mir erzählt, dass sie die Angestellten nun öfters kurz ohne Maske auf einen Spaziergang an die frische Luft schickt.
«Froh bin ich, dass sich die Passagiere ans Maskentragen im Bus halten. Polizist zu spielen, wäre nicht meins.»
Froh bin ich übrigens, dass sich die Passagiere bis auf ganz wenige Ausnahmen ans Maskentragen im Bus halten. Polizist zu spielen, wäre nicht meins. Wirklich, wir Fahrer haben gestaunt, wie problemlos sich die Leute anpassen. Einfach so, das ging ja von heute auf morgen, wirklich toll. Die soziale Kontrolle scheint zu funktionieren. Sogar die, die nachts unterwegs sind, und mit entsprechendem Pegel, halten sich daran. Ganz selten weise ich mal jemanden darauf hin, doch bitte eine Maske anzuziehen.
Bei uns hat nicht einer den Job verloren
Wofür ich wirklich dankbar bin: Bei uns musste nicht einer gehen, wir konnten alle Jobs halten. Das ist nicht selbstverständlich. Selbst die Fahrer in der Risikogruppe konnten grösstenteils ihre Arbeit wieder aufnehmen. Das liegt auch daran, dass der Bundesrat einige Risikogruppen wie etwa Menschen mit Diabetes von der Liste genommen hat. Das ist richtig so.
Neben meinem Job als Chauffeur arbeite ich nach wie vor auch als Gewerkschaftspräsident des Verkehrspersonals SEV Sektion TPF. Und hier ist die Arbeit also nicht weniger geworden seit der Aufhebung des Lockdowns, sondern noch mehr. Aktuell stehen Unsicherheiten nach den Ferien im Zentrum. Ich berate die Leute, ob und wie lange sie je nach Feriendestination in Quarantäne müssen. Das bereitet vielen Kummer. Das BAG hat dazu eine gute Informationsseite, aber es ist trotzdem kompliziert herauszufinden, was genau gilt.
Glas ist halbvoll – sonst ginge es nicht
Ich bin einer, bei dem das Glas halbvoll ist, nicht halbleer. Das kommt mir als Gewerkschaftspräsident zugute. Sonst dürfte ich diesen Job nicht machen, nicht in diesen Zeiten.
«Deswegen aber den Bundesrat im Nachhinein für seine Arbeit kritisieren? Das wäre viel zu einfach, so ein Typ bin ich nicht.»
Aber es ist schon so: Jetzt geht es an die Arbeitsstellen. Das Leben mit dem Virus, das geht noch lange, das zu sehen, dafür bin ich Realist genug. Das Lädeli-Sterben beginnt erst. Viele kaufen nur noch online ein, das ist wirklich ein Problem. Dieses Verhalten finde ich nicht nachhaltig, ich wünschte mir, die Leute würden hier sozialer denken. Ich kenne genug Leute, die jetzt ihren Job verlieren.
Deswegen aber den Bundesrat im Nachhinein für seine Arbeit kritisieren? Nein, sicher nicht. Das wäre viel zu einfach, so ein Typ bin ich nicht. Das Coronavirus war für uns alle neu, wir alle waren damit überfordert und mussten uns anpassen. Ich finde, der Bundesrat und allen voran Gesundheitsminister Alain Berset und Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga haben nicht schlecht gewerkt.»
Serie zum Thema «Noch immer Leben mit dem Virus»
Vor einem halben Jahr, am 16. März 2020, hat der Bundesrat einen Quasi-Lockdown angeordnet, die Schweiz stand nahezu still. In den Wochen danach hat «Bluewin» in einer Artikelserie verschiedene Personen über ihren neuen Alltag erzählen lassen. Doch wie geht es diesen Menschen heute? Drei von ihnen erzählen in der Serie «Immer noch Leben mit dem Virus» erneut.