Literatur – Serie (5) Michelle Steinbecks «Favorita»: Eine Reise durch Vergangenheit und Gegenwart

sda

8.11.2024 - 11:01

Die Autorin Michelle Steinbeck geht in ihrem zweiten Roman "Favorita" ins Gericht mit einem vermeintlichen Naturgesetz, wonach Männer Frauen töten. Letztlich macht sie diesem Naturgesetz mit einer opulenten Geschichte den Garaus. Dafür steht sie in der engen Auswahl für den Schweizer Buchpreis.
Die Autorin Michelle Steinbeck geht in ihrem zweiten Roman "Favorita" ins Gericht mit einem vermeintlichen Naturgesetz, wonach Männer Frauen töten. Letztlich macht sie diesem Naturgesetz mit einer opulenten Geschichte den Garaus. Dafür steht sie in der engen Auswahl für den Schweizer Buchpreis.
Keystone

Der Roman «Favorita» von Michelle Steinbeck führt den Leser auf eine spannende Spurensuche, die tief in die Vergangenheit und Gegenwart eintaucht.

Keystone-SDA, sda

Michelle Steinbecks zweiter Roman «Favorita» entfaltet sich auf über 450 Seiten und bietet eine Fülle an zwielichtigen Charakteren, Mord, Entführung und einem beeindruckenden Finale. Der Roman, der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist, ist ein untypisches Werk der Schweizer Literatur.

Die Geschichte beginnt mit dem Tod der Hauptfigur Favorita, auch bekannt als Magdalena. Fila, die Erzählerin, wird von der Ärztin ihrer Mutter nach Neapel gerufen: «Deine Mutter ist gestorben, und sie sagen, es sei wegen der Leber, aber ich kann dir versichern, es war nicht die Leber. (...) Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.»

Obwohl Fila ihre Mutter kaum kennt, begibt sie sich auf eine doppelte Spurensuche. Sie verfolgt die Spuren ihrer Mutter und stösst schnell auf Hinweise, die den Mord aufklären könnten. Was als Krimi hätte enden können, entwickelt sich bei Steinbeck zu einer wilden Reise durch Italien. Diese Reise hat ihre Längen, bis Fila auf einen Gedenkstein und einen weiteren Femizid stösst – an der jungen Bäuerin Sisina in den 1940er Jahren.

Ein Kaleidoskop von Charakteren

«Sie wurde umgebracht und dann ein halbes Jahrhundert durch den Dreck gezogen», bemerkt Fila über Sisina. Steinbeck nutzt ein beeindruckendes Ensemble von Charakteren, von altem Adel bis zu feministischen Aktivistinnen, um zu zeigen, wer was über die Morde weiss oder zu wissen glaubt. Die Erzählungen, Spekulationen und dramatischen Darstellungen der Figuren verdeutlichen, wie wenig sich seit den 1940er Jahren verändert hat.

Der Roman «Favorita» ist deutlich gesellschaftskritischer als Steinbecks Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch», das 2016 auf der Longlist des Deutschen und der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand. Seitdem hat die Autorin einen Lyrikband veröffentlicht, Theaterstücke geschrieben, Soziologie und Philosophie studiert und das feministische Kollektiv RAUF mitgegründet. Diese Erfahrungen fliessen in ihr aktuelles Werk ein.

Die Geister der Vergangenheit

Wie schon in ihrem ersten Roman, einer surrealen Coming-of-Age-Geschichte, lässt Steinbeck auch in «Favorita» die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. «Ich könnte nicht sagen, was Wirklichkeit war, oder Wahn, Fantasie, Halluzination», fasst Fila kurz vor dem Finale zusammen. Auch die ermordete Sisina erhält eine Stimme – als Geist, der Fila in verschiedenen Formen begegnet.

Diese Geister erinnern an eine ungelöste Vergangenheit. «Wir haben es nicht verhindert. Wir akzeptieren es, als wäre es ein Naturgesetz, an dem nichts zu ändern ist: Männer töten Frauen.» Dies gilt nicht nur für das Italien der 1940er Jahre oder das zeitgenössische, neo-faschistische Milieu, das Steinbeck beschreibt, sondern generell. In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau durch einen nahestehenden Mann getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Die Dunkelziffer bleibt unbekannt, da es keine offizielle Stelle gibt, die Femizide aufzeichnet.

In ihrer Fiktion gelingt es Steinbeck, deren Grossmutter tatsächlich Italienerin ist, diesem «Naturgesetz» in einem beeindruckenden Finale entgegenzutreten.