Schweizer Nachwuchstalent «Blutbuch» von Kim de L'Horizon für Deutschen Buchpreis nominiert

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20.9.2022 - 15:10

Kim de L'Horizon.
Kim de L'Horizon.
Handout: Dumont/Anne Morgenstern

Kim de L'Horizon entzieht sich gängigen Zuordnungen: fluide zwischen Mann und Frau und geboren 2666 – so stellt sich Kim selber vor. Kim lebt jedoch heute und nähert sich neuen Identitäten im Debüt «Blutbuch» noch reichlich orientierungslos. Ein Roman voller Lust und Verzweiflung.

«Meine Muttersprache ist das Reden. Meine Vatersprache ist das Schweigen. Und meine eigene Sprache sind Zungen, und meine Zungen tropfen, tröpfeln, verschwimmen, strömen, wurzeln, fliessen.» Das Wurzeln und das Fliessen sind für Kim de l'Horizon gleichermassen wichtig.

So sucht die Erzählfigur im Roman «Blutbuch», genderfluid wie Kim, als Kind Schutz unter einer Blutbuche und versucht, mit ihr zu verwachsen. Doch obwohl das Kind magische Kräfte hat, kann es nicht Baum werden. Statt Wurzeln wachsen aus seinen Fusssohlen Warzen, welche die Mutter mit heissem Sud und Messer ausmerzt.

Also Wasser werden. Alle Hindernisse umfliessen, keine feste Form annehmen, wandelbar bleiben wie die Amphibien, die evolutionär zu Menschen wurden. Wie können sich die Menschen nun weiterentwickeln, wie ihre Gespaltenheit in zwei Geschlechter schliessen?

Hinweise dazu geben Hydrofeministinnen, Science-Fiction-Autorinnen oder neuheidnische Hexen – die Quellen, aus denen Kim im Debütroman schöpft, sind so vielfältig wie die Sprache, die in dem fünfteiligen Opus stets neue Gestalt annimmt.

Dressierte Sprache

Kim de l'Horizon hat am Literaturinstitut in Biel studiert und dressiert die Sprache wie ein Pferd, das Kunststück um Kunststück vorführt, ein herausgeputztes Zirkuspony mit dem Anspruch höherer Schule. So finden sich in «Blutbuch» zu eindrücklicher Lyrik verdichtete Prosa und eindrückliche Bilder, daneben aber auch recht zufällig wirkender Ballast und unbeholfene Formeln politischer Korrektheit.

Im ersten und zweiten Teil ist die märchenhafte Mundart der Mutter – berndeutsch «Meer» (nach französisch mère) – prägend für das Kind. Es wächst innerhalb des ausgedienten patriarchalischen Systems in einer Art Matriarchat auf. Da behauptet sich die proletarische Grossmutter ("Grossmeer") mit einem nicht versiegenden Redefluss; die «Meer», sie ist unfreiwillig Mutter und Hausfrau, steht für wechselnde Aggregatzustände: Blitzschnell erstarrt sie zur Eiskönigin und lässt alles um sich herum gefrieren.

Dann wird es richtig brutal. Im dritten Romanteil dominiert die Sprache des Online-Sexmarkts, auf dem die erzählende Person aus der Ich-Perspektive sich schwulen Männern als Weibchen anbietet. Ob Kim de l'Horizon hier bloss die ausgetretenen Pfaden von Geschlechterstereotypen vorführen will oder ernsthaft mit der Tradition weiblicher Unterwerfung kokettiert, bleibt unklar. Ein paar Zeilen Rap passen perfekt zur sexualisierten Gewalt. Doch im Zuge der holprig zu lesenden Spoken-Word-Passagen kommt allmählich Langeweile auf.

Inszeniertes Selbst

Auch Kim de l'Horizon selber, in der Saison 2021/22 aus der freien Literaturszene zur Hausschreibkraft des Berner Stadttheaters aufgestiegen, inszeniert sich zuweilen stereotyp. Ein kräftiger Bartwuchs ist Kim eigen, ein schräg gelegter Kopf, Lidschatten und Lippenstift signalisieren Weiblichkeit. Reicht das, um als neuer, genderfluider Mensch durchzugehen?

In «Blutbuch» wird Gleichgesinnten der türkisfarbene Nagellack «Metallic Mermaid» empfohlen. Doch solange jemand aus einem solchen Fläschchen ein ganzes Frausein zaubern will, bleibt die Überwindung der Geschlechterdualität unerreichbar – so unerreichbar wie im Buch das alternde «Grossmeerchen», das mit fortschreitender Demenz zum «Märchen» wird. Der junge Prinz auf der Suche nach seiner weiblichen Herkunft und Zukunft berührt. Die Heldenreise wird indes noch ein Weilchen dauern.*

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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