Interview Ryan Murphy: «Ich sehe meine Karriere als politisches Statement»

Von Marlène von Arx, Los Angeles

28.9.2019

Ryan Murphy (links) mit seinem Partner David Miller und ihrem Sohn Logan.
Ryan Murphy (links) mit seinem Partner David Miller und ihrem Sohn Logan.
Getty Images

Netflix bietet verschiedenen Filmemachern jüngst einen dicken Batzen, damit diese ausschliesslich für den Streamingdienst arbeiten. Einer davon ist Ryan Murphy. «Bluewin» hat den Autor getroffen.

Nach 15 Jahren bei Fox hat Ryan Murphy («Nip/Tuck», «Glee») einen lukrativen Netflix-Deal unterzeichnet. Zum Start von «The Politician», seiner ersten Produktion für den Streamingdienst, reflektierte der erfolgreiche Serienschöpfer über den Wechsel und erklärt, inwiefern seine neue Serie mit Ben Platt und Gwyneth Paltrow eine politische Botschaft trägt.

Wie würden Sie Ihre neue Serie «The Politician» beschreiben?

Der Protagonist Peyton Hobart sagt am Anfang: ‹Ich bin keine gute Person, aber ich tue Gutes›, das ist der Ausgangspunkt. Angefangen hat es aber, als ich Ben Platt in einem Musical am Broadway sah. Er ist so talentiert, ich wollte eine Show für ihn kreieren. Er wollte etwas Komplexes spielen, also kamen wir darauf, die Evolution eines Politikers zu verfolgen. Jede Staffel wird eine neue Wahlkampagne für ihn beinhalten. In dieser Staffel will er Schülerpräsident seiner High School werden. Dazu geht es um Privilegien und Verantwortung: Die Frage, wie Peyton in eine gute Uni kommt, hatten wir übrigens schon vor dem College-Aufnahme-Skandal schon im Drehbuch.

In seinem Wahlkampf werden viele aktuelle Themen aufgegriffen. Hoffen Sie, mit der Serie etwas politisch zu bewirken?

Ich hoffe, sie ist eine ‹Get Out the Vote›-Show für die Jungen: Registriert Euch und wählt! Ich habe zwei junge Kinder – Waffen und der Klimawandel machen mir Angst. Unser junger Serien-Kandidat greift solche Themen auf, über die unsere Politiker im wirklichen Leben auch mal frei und ehrlich sprechen sollten. Ich bin politisch ziemlich aktiv: Ich habe Obama zweimal für einen Fundraiser bei mir zu Hause empfangen. Jetzt hielt ich gerade einen Fundraiser für die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris bei mir zu Hause. Jeder Gast kann aufstehen und eine Frage stellen. Da dies nicht aufgezeichnet wird, sind die Antworten der Kandidaten viel weniger massenkonform. Ich wünschte, die Leute könnten das hören.

«The Politician» ist Ihre erste Serie für den Streamer Netflix, mit dem Sie einen Fünfjahres-Vertrag für 300 Millionen Dollar abgeschlossen haben. Sind Sie nervös?

Nein, ich mache mir eigentlich keinen Stress. Der Wechsel von Fox zu Netflix ist auch nicht so drakonisch, wie man sich das vielleicht vorstellt. Ich führe ja alle meine F/X-Shows weiter und mein Büro ist auch immer noch bei Fox. «Glee», «Pose» und «American Crime Story» kann man auf Netflix sehen. Also läuft alles weiter wie bisher.

Shonda Rhimes («Grey’s Anatomy», «Scandal») und David Benioff/D.B. Weiss («Game of Thrones») haben ebenfalls lukrative Netflix-Deals. Was lockt dort ausser Geld?

Ich bin zu Netflix, weil ich 53 Jahre alt bin – in gewissen Online-Biografien sogar nur erfreuliche 51 Jahre – und noch etwas anderes machen möchte. Bei Netflix kann ich zusätzlich zu Serien Dokumentarfilme, Musik-Shows und Filme machen. Das Leben ist kurz und es gibt noch viel, wofür ich mich einsetzen will. Mir gefällt bei Netflix auch, dass es keine Regeln gibt, wie lange eine Serien-Episode zu sein hat. Ich musste bisher immer Episoden zwischen 45 und 55 Minuten abgeben. Hier habe ich die Zeit und das Geld, dass alles optimal aussieht und ich etwas ändern kann, wenn ich will.

Das amerikanische Kino produziert hauptsächlich Superhelden- und Horror-Filme erfolgreich. Dramen wie Ihre Adaption des Bestsellers «Eat, Pray, Love» sieht man kaum noch. Oder denken Sie, dass solche Filme bei Netflix eine neue Chance haben?

Ja, denn ich sehe das ja auch bei mir: Das Kino hat nicht mehr den gleichen Reiz, den es früher für mich hatte. Mit zwei kleinen Kindern ist es einfacher für mich, den Fernseher anzustellen, als ins Kino zu gehen. Und auch die Jungen tendieren zum Bildschirm. Ich würde gerne eine Musical-Adaption von «Sunset Boulevard» mit Glenn Close machen. Mal sehen, ob wir das hinkriegen. Einfach ist es nicht.

Ihre Serien-Titel beinhalten Horror, Verbrechen, Fehde – man könnte denken, Ihr Weltbild sei ziemlich düster. Oder haben Sie auch mal in Betracht gezogen, eine Anthologie-Serie über glücklich endende Liebesgeschichten zu machen?

American Love Story – warum nicht? [lacht] Aber ich kann nicht gut romantische Komödien schreiben. Ich hab's versucht und bin gescheitert. «Glee» war ziemlich optimistisch. Die Leute wollen einfach etwas fühlen. Das Horror-Genre zwingt einen dazu. Filmemacher haben einen Weg gefunden, beim Horror das Budget im 10-35-Millionen-Dollar-Rahmen zu halten, deshalb funktioniert das Genre auch noch im Kino.

Sie haben sich stets für die LGBTQ-Community und für Frauen vor und hinter der Kamera eingesetzt. «Pose» ist die erste TV-Serie mit Transgender-Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller Billy Porter hat als erster schwarzer Schwuler letzte Woche einen Emmy gewonnen. Sie wollen ganz klar mehr als unterhalten …

In gewisser Weise schon: Ich sehe meine Karriere als politisches Statement. Ich bin ein schwuler Mann – wo ist unsere Geschichte? Als ich «The Normal Heart» über die Aids-Krise in den Achtzigerjahren drehte, sagten mir viele junge schwule Männer, dass sie keine Ahnung hatten, was damals politisch alles abging. Denn wir sind in vieler Hinsicht ein unsichtbares Segment der Gesellschaft. Fertig damit! Ich habe mein halbes Leben ‹Nein› gehört. Jetzt, wo ich immer ein ‹Ja› höre, will ich meine Macht nutzen, das zu ändern.

Mit «The Politician», «9-1-1», «Pose», den Anthologie-Serien «American Horror Story» und «American Crime Story», sowie bald «Ratched» haben Sie sechs Serien am Laufen. Wie geht das alles nebeneinander her?

Das tönt schlimmer als es ist: Meine Serien haben heute nicht mehr als acht bis zehn Episoden pro Staffel. «Glee» hatte 22. «Horror Story» war zuerst noch 13, «Nip/Tuck» 16 Episoden. In allen Shows habe ich grossartige Vize-Leute und neue frische Stimmen: Zum Beispiel Steven Canals, der seine Erfahrungen als Schwarzer in New York in den achtziger und neunziger Jahren in den «Pose»-Scripts niederschreibt. Und «Ratched» kam vom jungen Filmschüler Evan Romansky, der «One Flew Over the Cuckoo’s Nest» einfach unglaublich gut findet und als Übung ein Script über die Krankenschwester Mildred Ratched schrieb. Ich fand es toll. Es hat dann ein Jahr gedauert, bis ich von den Filmproduzenten Michael Douglas und den Saul-Zaentz-Nachkommen die Rechte bekam. Sarah Paulson wollte die Rolle spielen und Netflix offerierte zwei garantierte Staffeln.

Sie bekommen also alles in allem genügend Schlaf?

Sechs bis sieben Stunden. Ich delegiere viel. Ich teile meinen Tag in 15-Minuten-Intervalle auf, so geht’s meistens. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem mein Job es ist, den Leuten zu helfen, ihre Vision zu verwirklichen – nicht ihnen meine aufzudrücken. Ich verbringe viel Zeit mit dem Casting und etablierte Schauspieler mit diesen neuen Schreibern zu verbinden. Für mich gibt es nichts Tragischeres als verlorenes Potenzial. Ansonsten führe ich ein normales Leben: Wenn ich am Abend fertig bin, sitze ich vor den Fernseher und schlafe bei einer Episode von «The Housewives of New York» ein.

«The Politician» ist ab sofort auf Netflix abrufbar.

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