Interview mit Spike Lee«Wie beendet man Rassismus? Das müsst ihr beantworten»
Von Marlène von Arx, Los Angeles
5.6.2020
Seit vierzig Jahren dokumentiert Spike Lee das Leben aus der Sicht der schwarzen Amerikaner. Wie beurteilt der Filmemacher die aktuellen Proteste gegen Rassismus im Land? «Bluewin» hat nachgefragt.
Amerika im Chaos. Coronavirus und Aufstände im ganzen Land. Aber Spike Lee (63) scheint überraschend gut gelaunt, als er sich vor seine Computer-Kamera zum Interview hinsetzt.
Mit seiner Hommage an New York in der Corona-Krise «New York, New York» und dem Video-Zusammenschnitt der Morde durch Cops an der «Do the Right Thing»-Figur Radio Raheem und den tatsächlichen Opfern Eric Garner und George Floyd in «3 Brothers» drückte er in den letzten Wochen seine Stimmung mit Kurzfilmen aus.
«Da 5 Bloods» ist ab 12. Juni auf Netflix zu sehen.
Marlène von Arx im Gespräch mit Spike Lee
Spike Lee, Sie sitzen vor einer Wand von Bildern. Wo sind Sie gerade?
Ich bin im Welt-Hauptsitz von Forty Acres and a Mule (seine Produktionsfirma, Anm.d.Red.) in der Volksrepublik Brooklyn, New York (lacht). Und das hinter mir sind Original-Fotos des Künstlers James Van Der Zee, der während der Harlem Renaissance berühmt wurde.
Sie sind trotz der sozialen Unruhen vor Ihrer Haustür und der Corona-Krise zum Spassen aufgelegt. Wie ist Ihre Gemütslage derzeit?
Das ist von Tag zu Tag verschieden. Ich bin optimistisch. Schon der Film «Do the Right Thing», den ich vor 31 Jahren drehte, war letztlich ein optimistischer Film – obwohl Kritiker sagten, ich würde damit zu Unruhen anstiften. Dann sehen wir, wie Eric Garner ermordet wird, und wie George Floyd ermordet wird – und geändert hat sich nichts. Oder zumindest: Schwarze werden immer noch umgebracht, oft von Polizisten. Und um noch einen drauf zu setzen, werden die Mörder jeweils noch freigesprochen.
Das tut sie immer. Was mich jetzt optimistisch stimmt: Die junge weisse Generation, meine jungen weissen Brüder und Schwestern, gehen mit uns auf die Strassen. Das habe ich seit der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren nicht mehr in diesem Ausmass gesehen.
Es gibt Leute, die in Städten wie Salt Lake City ihre Häuser verlassen und demonstrieren. Wie viele Schwarze hat es da überhaupt? Ihr Basketball-Team Utah Jazz ist jedenfalls nicht da, die spielen ja momentan nicht (lacht). Und Des Moines, Iowa? Da hat es doch auch kaum Schwarze. Wir sehen also eine noch nie dagewesene Anzahl von aufrechten weissen Amerikanern, die sagen: Dieser Mist muss aufhören. Black Lives Matter!
Und dann gibt es eine Minderheit, die plündert. Gefährdet das nicht die Bewegung?
Halten wir fest: Die Plünderer sind nicht nur schwarz. Auch sind sie nur ein kleiner Prozentsatz im Vergleich mit den vielen friedlichen Demonstranten. Natürlich sind Plünderer ein gefundenes Fressen für die Medien. Die Mehrheit sind aber einfach gesetzestreue Bürger, die ihre Rechte wahrnehmen. Plündern und Zerstören sollte nicht passieren, aber es passierte. Es gibt immer solche, die die Situation ausnutzen, aber lassen wir uns bitte nicht von ihnen ablenken.
Der Impuls zu Veränderungen ist jetzt da. Wie wird das jetzt bis zu den Wahlen im November beibehalten?
Wir Schwarzen werden oft gefragt, wie man Rassismus beendet. Aber das müsst ihr beantworten. Wichtig ist sicher, sich für die Wahlen zu registrieren, damit man im November auch wählen kann. Alle müssen wählen gehen, denn Agent Orange muss weg – ich nenne den Präsidenten nicht beim Namen, ich nenne ihn Agent Orange. Ich bin überzeugt, dass die ganze Welt in Gefahr ist, wenn er wiedergewählt wird, nicht nur die USA.
Wie beobachten Sie die Solidaritäts-Demonstrationen ausserhalb der USA?
Ich finde es sehr wichtig, dass man die Situation im eigenen Land anschaut. Die USA sind nicht das einzige Land mit einem Rassenproblem. Der Typ in Brasilien ist genauso schlimm wie Agent Orange. Er hat nur das Glück, dass gerade sonst viel los ist und niemand so genau hinschaut.
Unter Agent Orange versteht man ja eigentlich einen im Vietnamkrieg benutzten chemischen Kampfstoff – was uns zu Ihrem neuesten Film «Da 5 Bloods» bringt. Der Film ist eine Art Schatzsuche einer Gruppe von Vietnam-Veteranen, die nach Jahren an den Tatort ihrer Kriegserlebnisse zurückkehren. Wieso trägt einer von ihnen einen MAGA-Hut?
Weil es eben auch eine kleine Gruppe von Schwarzen gibt, die auf Agent Orange reinfallen. Mein Co-Drehbuchautor Kevin Willmott hielt es für eine gute Sache, eine Figur durch diese extreme Position zu definieren. Es weist auch darauf hin, was für nachhaltige Schäden er aus dem Krieg nach Hause brachte, und macht ihn zu einer Art tragischen Shakespeare-Figur. Delroy Lindo spielt das super.
Wieso haben Sie zum jetzigen Zeitpunkt einen Film über den Vietnamkrieg gedreht, der nicht nur Nachbearbeitung, sondern gleichzeitig auch eine Schatzsuche ist?
Zuerst war das Script, das «The Last Tour» hiess und von weissen Veteranen handelte, bei Oliver Stone, bevor es bei mir landete. Ich hatte nämlich einmal in einem Interview erwähnt, wie sehr ich den Klassiker «Der Schatz der Sierra Madre» mochte. Ich sah den Film in der Filmschule. Und ich war auch ein Fan von «Apocalypse Now», deshalb ist die eine oder andere Hommage an den Film in «Da 5 Bloods». Ich habe Laurence Fishburne für meinen zweiten Film «School Daze» engagiert, weil ich ihn in «Apocalypse Now» sah, als er vierzehn Jahre alt war.
Sie blicken seit vierzig Jahren aus der Perspektive der schwarzen Amerikaner auf die Geschichte zurück. Glauben Sie, dass Filme etwas verändern können?
Ja, ich glaube, dass Kunst die Welt verändern kann. Das werde ich bis ins Grab glauben. In welchem Grad? Darüber kann man streiten.
Dass Sie erstmals einen Film auf Netflix uraufführen, war wohl nicht ihre ursprüngliche Absicht, oder?
Nein, im Mai hätte ich die Jury am Film Festival von Cannes präsidieren und «Da 5 Bloods» dort uraufführen wollen. Danach wäre ich wie Scorsese mit «The Irishman» zuerst ins Kino und dann auf die Netflix-Streaming-Plattform. Covid-19 hat diese Pläne vereitelt. Aber wissen Sie was: Es mussten alle ihre Pläne ändern. Die Wege des Herrn sind unergründlich.