Streitgespräch zur «Lex Netflix» «Jeder dritte Film wird vom Staat vorgeschrieben» – «Nein, Netflix bestimmt weiterhin selber»

Von Marlène von Arx

30.4.2022

Die letzte Klappe beim Filmgesetz fällt bei der Abstimmung am 15. Mai.
Die letzte Klappe beim Filmgesetz fällt bei der Abstimmung am 15. Mai.
KEYSTONE

Unter anderem Streamingdienste sollen künftig einen Teil ihres Umsatzes in das hiesige Filmschaffen investieren. Cinésuisse-Präsident Matthias Aebischer und Referendumskomitee-Präsident Matthias Müller im Streitgespräch zur «Lex Netflix».

Von Marlène von Arx

Im Oktober 2021 hat das Parlament die Änderung des Filmgesetzes beschlossen: Streamingdienste, sowie ausländische Fernsehsender sollen vier Prozent ihres in der Schweiz erwirtschafteten Umsatzes in das Schweizer Filmschaffen investieren – und 30 Prozent der angebotenen Filme sollen aus Europa kommen.

Die Jungparteien der FDP, SVP und GLP ergriffen dagegen das Referendum. Nationalrat und Cinésuisse-Präsident Matthias Aebischer und Referendumskomitee-Präsident Matthias Müller im Streitgespräch zur «Lex Netflix», über die am 15. Mai abgestimmt wird.


Zu den Personen

Matthias Aebischer
Nationalrat Matthias Aebischer, SP-BE, spricht waehrend einer Medienkonferenz von des ueberparteilichen Ja-Komitees ueber die Aenderung des Filmgesetzes (Lex Netflix), am Donnerstag, 24. Maerz 2022, in Bern. Am 15. Mai 2022 findet die Volksabstimmung über das Filmgesetz statt. (KEYSTONE/Anthony Anex)
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Der Journalist und ehemalige Fernsehmoderator ist Berner SP-Nationalrat und Präsident von Cinésuisse. Er vertritt mit dem Ja zum Filmgesetz die parlamentarische Empfehlung.

Matthias Müller
Matthias P. Mueller, Vizepraesident Jungfreisinnige Schweiz, fotografiert im Hauptquartier des NEIN Komitees zum Geldspielgesetz, am Sonntag, 10. Juni 2018 in Bern. Die Schweizer Stimmbevoelkerung entscheidet heute ueber zwei Vorlagen: Vollgeld-Initiative und Geldspielgesetz. (KEYSTONE/Anthony Anex)
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Der Jurist aus Zürich ist seit Ende 2019 Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz. Als Präsident des Referendumskomitees führt er die Nein-Parole zum «Lex Netflix»-Filmgesetz an.


In der Vorlage zum neuen Filmgesetz heisst es: «Neu sollen für Streamingdienste ähnliche Regelungen gelten wie für Schweizer Fernsehsender». Wieso finden Sie das problematisch, Herr Müller?

Das greift nur einen Aspekt des Filmgesetzes auf. Die Revision des Filmgesetzes enthält zwei zentrale Punkte: Erstens will man die ausländischen, aber auch die Schweizer Streamingdienste stark zur Kasse bitten – sie sollen 18 bis 30 Millionen Franken den Filmschaffenden entweder via Zwangsinvestitionen, Aufkaufen von Schweizer Filmproduktionen oder Ersatzabgabe ans Bundesamt für Kultur abliefern.

Diese Kosten werden zwangsläufig auf den Konsumenten und die Konsumentinnen abgewälzt. Zweitens soll eine 30-Prozent-Quote an europäischen Filmen, die ein Streamingdienst anbieten muss, eingeführt werden. Das bedeutet, dass jeder dritte Film vom Staat vorgeschrieben wird. Das ist unnötig und vor allem ungerecht.

Auf die Quoten kommen wir noch. Zuerst: Wieso ist das neue Filmgesetz nötig, Herr Aebischer?

Ich erlaube mir, Herrn Müller zu korrigieren, wenn er von zusätzlichen Kosten spricht. Es geht nicht um zusätzliche Kosten, sondern darum, dass die Streaminganbieter einen kleinen Teil von dem Geld, das sie in der Schweiz verdienen, auch wieder in der Schweiz ausgeben. Sonst geben sie ihr Produktionsbudget einfach in den europäischen Ländern aus, die bereits eine Investitions- oder eine Abgabepflicht haben.

Frankreich hat eine Investitionspflicht von 26 Prozent, Italien von 20 Prozent und Spanien von fünf Prozent. Bei uns sollen vier Prozent nicht ins Ausland abgezügelt, sondern hier reinvestiert werden. Das ist keine Hintertür, durch die die Filmindustrie versucht, an mehr Geld zu kommen. Es geht darum, dass die Schweiz nicht benachteiligt wird gegenüber anderen Ländern in Europa.

Ohne das Filmgesetz gäbe es eine Benachteiligung für den Schweizer Film?

Müller: Gemäss Bundesamt für Statistik fliessen 84 Millionen Franken an Subventionen in den Schweizer Film, dazu kommen noch 50 Millionen Franken von der SRG. In den letzten zehn Jahren sind diese Subventionen auf Stufe Bund, Kantone und Gemeinden um mehr als 50 Prozent gestiegen.

Es gibt keine andere Branche mit einem solchen Subventionswachstum.

2019 kamen 316 Schweizer Filme ins Kino, die im Schnitt von 2600 Leuten gesehen wurden. Ich will das nicht schlechtreden. Aber so wie der Schweizer Film jetzt gemacht wird, richtet er sich an ein Nischenpublikum. Es ist falsch, Privatunternehmen wie Netflix oder Disney+ zu zwingen, Filme zu produzieren, die nur wenige ansprechen und sich daher nicht rentieren.

Aebischer: Das ist in anderen Ländern, inklusive USA, nicht anders: Bis eine Hit-Serie wie zum Beispiel «Sex and the City» da ist, werden unzählige Drehbücher geschrieben, Pilotepisoden und Staffeln gedreht und auch wieder begraben. Filmemachen ist eine Kunst und ein bisschen Glück braucht es auch.

Wenn Netflix 20 Prozent vom Geld, das in Italien verdient wird, in italienische Filme investieren muss, gibt es immer mehr gute italienische Filme und Serien. Das Gleiche gilt in anderen Ländern – wie in Frankreich oder Spanien, wo die Hit-Serien «Lupin» und «Haus des Geldes» entstanden sind.

Müller: Es werden immer nur Frankreich, Spanien und Italien erwähnt. Ich habe gelesen, was Sie im Parlament für Berichte bestellt haben, Herr Aebischer: Da steht schwarz auf weiss, dass die Hälfte der Länder in Europa weder eine Ersatzabgabe noch eine Investitionspflicht kennen. Der überwiegende Rest hat einen Schnitt von unter zwei Prozent. Deutschland hat eine Abgabe von bis zu 2,5 Prozent. Schweden, Norwegen, Polen, die keine Investitionsverpflichtung kennen, machen super Filme. Das kann die Schweiz auch, was sie mit der Serie «Neumatt» und dem Film «Wolkenbruch», die auf Netflix laufen, bewiesen hat.

«Wir wollen ein Stück vom Kuchen, sonst essen es die anderen.»

Matthias Aebischer

Aebischer: Es ist bewundernswert, dass Sie alle Gesetze und Berichte im Detail gelesen haben, aber dann sagen Sie jeweils nur die Hälfte davon, was darin steht. Da steht nämlich auch, dass die anderen Länder, die noch keine Investitionspflicht oder Abgaben haben, dabei sind, eine einzuführen. Es ist nichts als logisch, dass die Schweiz da mitzieht. Wir wollen ein Stück vom Kuchen, sonst essen ihn die andern. Oder übersetzt: Wenn das Geld nicht in der Schweiz investiert wird, dann eben in Frankreich oder Spanien.

Das Gesetz sieht auch vor, dass 30 Prozent der Inhalte auf den Streamingdiensten europäischen Ursprungs sein sollen. Ist diese Quote ein zu grosser Eingriff ins Angebot?

Müller: Wir finden ja. Dass jeder dritte Film von Herrn Aebischer und Co. parlamentarisch-staatlich vorgeschrieben wird, ist unnötig und falsch. So werden zudem aussereuropäische Filme aus dem Angebot fallen.

Aebischer: Sie haben nicht gerade eine gute Meinung von der Parlamentsarbeit. Die Kollegen und Kolleginnen Ihrer Mutterpartei haben auch mehrheitlich zugestimmt. Netflix entscheidet selbst, welche Filme gezeigt werden: Im Jahr 2021 bot Netflix in Österreich trotz 30-Prozent-Klausel mehr Filme und Serien an als in der Schweiz.

Wir haben übrigens auch 25 Prozent diskutiert, aber damit wären wir nicht EU-kompatibel und kämen nicht einmal an den Verhandlungstisch, um wieder beim Kulturabkommen «Creative Europe» mitmachen zu können.

EU-Kompatibilität ist für Sie kein Thema, Herr Müller?

Müller: Sogar der Bundesrat setzt ein Fragezeichen und spricht nur von einer «voraussichtlichen Notwendigkeit», ob die 30 Prozent eine Voraussetzung für «Creative Europe» ist. Dazu wird eine unabhängige Aufsichtsbehörde über das Filmschaffen in der Schweiz gefordert.

Zudem: Die leitende Produzentin von «Neumatt» hat sich in einer SRG-Pressemitteilung zitieren lassen, der Lizenzkauf von «Neumatt» sei der real existierende Beweis dafür, dass das Schweizer Filmschaffen international mithalten und es auf die grosse Bühne schaffen kann. Genau auf diesem Weg müssen wir weitermachen – ganz ohne Zwang und mit guten Drehbüchern.

Ich kenne im Übrigen keinen namhaften Wirtschaftsverband, der für das Gesetz ist. Sowohl der Gewerbeverband als auch EconomieSuisse haben sich scharf dagegen ausgesprochen – weil es dem Werkplatz und den Konsumenten letztlich schadet.

Das Filmgesetz ist also schlecht für Gewerbe und Wirtschaft, Herr Aebischer?

Aebischer: Nein, ein Film-Franken ist ein Multiplikator. Jeder Franken, der in einen Film investiert wird, kommt mindestens dreifach zurück. Dazu gibt es Studien. Schweizer Hotels, Coiffeure, Restaurants, die Schreiner, die Requisiten bauen, profitieren. Unfassbar, dass Herr Müller als Freisinniger sagt, die Filme sollen im Ausland gedreht werden. Denn sie werden logischerweise da gemacht, wo es eine Investitionspflicht gibt.

Was ändert sich für die Schweizer Privatfernsehsender?

Aebischer: Die Schweizer Privatsender haben bereits eine Vier-Prozent-Investitionspflicht, aber nicht die ausländischen. Das ist ungerecht. RTL, SAT.1, M6 und TF1, die mit ihren Werbefenstern aus der Schweiz jährlich 300 Millionen Franken abziehen, sollen nun gleich behandelt werden.

Bei den Schweizer Fernsehstationen ist vor allem eine betroffen: Das ist 3+. Sie konnten bisher ihren Pflichtanteil von einer Million Franken in Werbung für Filme und Festivals investieren. Jetzt müssen sie 500’000 Franken pro Jahr zu einem Film beisteuern, oder alle vier Jahre 2 Millionen in einen Film investieren.

Müller: Aber die Leute von den Privatsendern sitzen ja bei uns im Komitee, weil die Vorlage die Schweizer Privatsender besonders trifft. Sie wollten, dass Film-Werbung mehr angerechnet wird, was auch Sinn ergibt: Werbung für den Schweizer Film ist gut. Mit der Revision des Filmgesetzes wird für sie eine Schmerzgrenze erreicht. Sie werden der Schweizer Filmbranche geopfert.

Aebischer: Der Bundesrat wollte zuerst null Franken an Werbung anrechnen lassen. Dann kam Roger Elsener, Präsident Verband Schweizer Privatfernsehen, zu mir und sprach von einem Kompromiss. Den haben wir nun. Und jetzt sagt er, das breche dem Regionalfernsehen das Genick. Dabei betrifft es diese gar nicht.

… weil wenn weniger als 12 Filme im Jahr ausgestrahlt und weniger als 2,5 Millionen Franken Umsatz erwirtschaftet werden, die Investitionspflicht wegfällt …

Müller: Trotzdem: Nur drei Länder haben mehr Abgaben als die Schweiz es mit dem neuen Filmgesetz will. Belgien, ebenfalls ein mehrsprachiges Land, hat 2,1 Prozent. Die Schweiz will das Doppelte. Die Filmlobby hat völlig übertrieben.

Aebischer: Dann sagen Sie doch, dass Sie das Referendum ergriffen haben, weil es vier statt zwei Prozent sind. Ihre Argumente wechseln täglich. Man kann immer über 1%, 2%, 3% oder 5% diskutieren. Ja, über 5% haben wir auch diskutiert. Der Ständerat und der Nationalrat haben sich klar auf 4% geeinigt.

Schlussfrage: Was hat sich in fünf Jahren für die Konsumentin und den Konsumenten positiv geändert, wenn die «Lex Netflix» angenommen wird, Herr Aebischer?

Aebischer: Aus Sicht des Konsumenten hat es auf Netflix, aber vermutlich weltweit, mehr Schweizer Filme und Serien. Das ist eine Super-Werbung für unser Land, unser Filmschaffen und unsere Kultur. Davon profitiert das ganze Land, vor allem auch die KMUs.

Umgekehrt gefragt, Herr Müller: Was hat sich positiv für den Konsumenten und die Konsumentin in fünf Jahren geändert, wenn das Filmgesetz abgelehnt wird?

Müller: Der Status quo bleibt: Es bleibt die Freiheit zu sehen, was wir wollen. Schweizer Filme können wir jetzt schon rund um die Uhr auf PlaySuisse schauen. Es gibt keinen neuen Zwang, etwas zu schauen, dass wir nicht schauen wollen. Es gibt keinen Zwang, höhere Abo-Gebühren einzufordern für Filme, die wir nicht sehen wollen. Und die staatlichen Filmsubventionen – das zeigen die vergangenen Jahre – werden auch so weiter steigen.