Im Nachhin betrachtet lief 2020 blendend für TikTok. Die Nutzerzahlen explodierten und Nemesis Donald Trump wurde abgewählt. Sein Versuch, die App zu verbieten, scheiterte kläglich.
Es ist gut möglich, dass Donald Trump vor dem 20. Juni 2020 noch nie von TikTok gehört hatte. An diesem Tag wollte es, inmitten der Corona-Pandemie, ein Comeback für seine berühmt-berüchtigten Wahlkampfveranstaltungen feiern. Eine 19'000 Menschen fassende Multifunkitonsarena in Tulsa, Oklahoma sollte die grosse Bühne bieten. Doch Tulsa wurde zum Desaster, nicht mal ein Drittel der Arena war gefüllt.
Medienberichte spekulierten danach, dass TikTok für die leeren Ränge gesorgt haben könnte. In den Wochen zuvor gab es Aufrufe auf TikTok, sich doch Tickets für die Veranstaltung zu reservieren — freilich ohne Absicht, sie auch wirklich zu nutzen — und diese so echten Trump-Unterstützer zu entziehen. Vermutlich war die Inkompetenz von Trumps Kampagne eher verantwortlich für die gähnende Leere in Tulsa, aber Fakten waren Trump ja noch nie besonders wichtig. Und ab diesem Moment hatte der notorisch rachsüchtige Trump TikTok auf dem Kieker.
Und anders als etwa bei seiner späteren Twitter-Verbannung konnte Trump hier zumindest theoretisch etwas unternehmen, denn TikTok gehört dem chinesischen Konzern ByteDance. US-Gesetze geben dem Präsidenten grosse Handlungsfreiheit, wenn er sich auf Gefahren für die nationale Sicherheit beruft. Absolut gerichtsfeste Beweise für die Vorwürfe gegen ausländischen Unternehmen sind hier nicht erforderlich. Trump hielt ByteDance etwa vor, über TikTok amerikanische Nutzer auszuspionieren, was das Unternehmen natürlich bestritt.
Wie gross die Macht des Präsidenten in diesem Bereich theoretisch ist, konnte man in den vergangenen Jahren am Beispiel Huawei sehen, dessen Smartphone-Geschäft in westlichen Ländern durch die Trump’schen Anordnungen dezimiert wurde. An TikTok hingegen scheiterte er, obwohl es im Sommer für eine Weile so aussah, als seien die Tage der App zumindest in den USA gezählt. Unter den Nutzern herrschte damals Endzeitstimmung, in tränenreichen Videos forderten viele Influencer ihre Follower auf, ihnen doch auf anderen Plattformen wie Instagram treu zu bleiben.
Deal mit Oracle und Walmart steht auf der Kippe
Doch die präsidentiellen Verordnungen, mit denen Trump den Verbot oder alternativ den Verkauf TikToks an ein US-Unternehmen erzwingen wollte, erwiesen sich als deutlich weniger durchschlagskräftig als vom Präsidenten erhofft. Unter Druck verkündete ByteDance schliesslich im September eine Vereinbarung mit Walmart und Oracle, der den beiden US-Firmen die Kontrolle über die Daten amerikanischer Nutzer geben sollte.
Die genauen Modalitäten dieses Deals sind bis heute unklar, über den Stand der Verhandlungen gibt es seit Monaten keine neuen Nachrichten. Gerade Oracle hat wohl nur den Zuschlag bekommen, weil dessen CEO Larry Ellison ein Trump-Intimus war. ByteDance dürfte nach dem Machtwechsel in Washington deutlich weniger Bedürfnis verspüren, diesen nach seiner Auffassung durch Nötigung zustande gekommenen Deal zum Abschluss zu bringen. Vor Gericht verzeichnet TiKTok zudem einen Erfolg nach dem anderen gegen die Verordnungen.
TikTok-Widersacher im Kongress diskreditiert
Als weitere gütige Fügung kommt für TikTok hinzu, dass der grösste Kritiker im Kongress in den letzten Wochen vermutlich Karriereselbstmord begangen hat. Lange bevor Trump selbst auf TikTok aufmerksam wurde, führte der republikanische Senator Josh Hawley als Vorsitzender eines einflussreichen Ausschusses einen wahren Kreuzzug gegen chinesischen Unternehmen, zuvorderst TikTok.
Doch Hawley war auch einer der Anführer des Versuches, die Wahl Joe Bidens mittels frei erfundener Wahlbetrugsvorwürfe zu kippen. Ein inzwischen infam gewordene Foto zeigt Hawley, wie er seine ausgestreckte Faust in Richtung der Aufständischen hebt, die kurze Zeit später ihren tödlichen Sturm auf das Kapitol beginnen sollten.
From our Francis Chung, Sen. Josh Hawley greeting protesters in the east side of the Capitol before riots began. pic.twitter.com/I8DjBCDuoP
Im Nachgang nannte Hawleys Mentor es den «grössten Fehler» seines Lebens, Hawley je unterstützt zu haben. Quasi alle Tageszeitungen seines Heimatstaats Missouris forderten Hawleys Ausschluss aus dem Senat, Grossspender drehten den Geldhahn zu. Niemand in der nun demokratischen Mehrheit im Senat wird mit Hawley nach dieser Aktion bei irgendetwas gemeinsame Sache machen wollen, selbst falls sie inhaltlich übereinstimmen.
Biden wird TikTok wohl in Ruhe lassen
Eigentlich läuft also alles blendend für TikTok, obwohl sich der neue Präsident Biden selbst oder sein Team nie konkret dazu geäussert haben, wie sie mit dem Dienst umgehen wollen. Es ist allerdings ziemlich unwahrscheinlich, dass das Schicksal von TikTok es in die Top 100-Liste der Prioritäten der Biden-Regierung schafft, die sich erst mal mit deutlich ernsthafteren Problemen beschäftigen dürfte.
Wenn überhaupt, wird TikTok im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatz gegenüber chinesischen Tech-Unternehmen in den Fokus der Biden-Regierung kommen. Bidens Aussenminister Tony Blinken hat bereits durchblicken lassen, dass die USA Kollaborationen von chinesischen Firmen mit der Regierung bei Menschenrechtsverletzungen wie der Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong oder dem Genozid an den Uiguren sanktionieren werden. Im Gegensatz zu anderen chinesischen Tech-Giganten gibt es aber keinerlei Anzeichen dafür, dass ByteDance da involviert sein könnte.
Allzu viel Berührungsangst mit TikTok scheint es im Biden-Umfeld jedenfalls nicht zu geben. Die virtuelle Amtseinführungsparade am Mittwoch zeigte gleich zwei TikTok-Stars: Nathan Apodaca, dessen entspannte Skateboardfahrt zu «Fleetwood Mac» zu einem Meme wurde, sowie den «TikTok Doc» Jason Campbell, der informative Videos zu Covid-19 produzierte. Und Kamala Harris’ Nichte Meena Harris veröffentlichte ein TikTok-Video, das sie beim Gang mit Tochter und Tante in das Weisse Haus zeigte, von dem einst TikTok verboten werden sollte.