Intimitäts-Coach«Wir klären, wie die Figuren miteinander schlafen»
Von Carlotta Henggeler
27.12.2021
Sie begleitet Schauspieler*innen bei Nackt- und Sexszenen am Filmset: Intimitäts-Koordinatorin Julia Effertz erzählt, was ihr Job mit Hollywood-Produzent Harvey Weinstein zu tun hat.
Von Carlotta Henggeler
27.12.2021, 18:00
28.12.2021, 09:18
Carlotta Henggeler
Das Beste von 2021
Zum Jahresende bringt blue News die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 7. November 2021.
Ich habe viel Fantasie, kann mir aber nicht vorstellen, wie das funktioniert, wenn Sie Sexszenen am Set koordinieren. Wie sieht der erste Schritt aus?
Man muss wissen, dass 80 Prozent der Vorbereitung vor dem Dreh stattfindet. So, wie man auch einen Stunt nicht erst am Drehtag besprechen kann.
Und wie geht es dann weiter?
Ich spreche mit der Regie über die Szene, kläre, welche Küsse und Berührungen erzählt werden sollen. Ein Kuss ist nicht einfach nur ein Kuss, er erzählt eine Geschichte. Oder wir klären die Frage: Wie schlafen die Figuren miteinander? Gibt es einen Höhepunkt? Wenn ja, für wen – und ist er schön? Ist es das erste Mal, dass sie miteinander schlafen oder sind die schon 30 Jahre verheiratet? Intimität ist ein Reichtum, den man im Storytelling noch nicht erschlossen hat, weil da auch viel Scham drinsteckt.
Kann ich mir vorstellen.
Intimszenen sind beim Dreh die letzte Grauzone, also eine narrative Leerstelle. Eine Flatline – weil sie nicht gearbeitet wurden.
Wie geht es nach der ersten Besprechung weiter?
Dann spreche ich mit den Schauspielern, kläre ihre Grenzen ab, ich brauche klare Jas und Neins. Ich spreche mit allen, die in der Planung beteiligt sind: Von den Kostüm-Kolleg*innen, mit denen ich über die hautfarbenen Intimbedeckungen spreche, bis zur Aufnahmeleitung. Eine intime Szene sollte man immer choreografieren und proben.
Wichtig ist, dass man diese Szenen ganz langsam probt, wie eine Kampfszene.
Wie läuft es am Drehtag selbst ab?
Am Drehtag sorge ich mit für die Einhaltung des geschlossenen Sets.
Das heisst?
Nur die für den Dreh benötigten Kolleg*innen sind anwesend. Die Monitore sind ausgeschaltet. Wir sorgen für die Schauspieler*innen und das Team für einen geschützten Raum.
Ich stelle mir Sex- oder Gewaltszenen zu drehen als körperlich anstrengend vor.
Ja, sie sind auch emotional anstrengend. Das Gehirn unterscheidet im Spiel nicht zwischen real und Fiktion. Bei der Darstellung sexualisierter Gewalt ist es wichtig, dass die Schauspieler die Arbeit am Set lassen können. Auch diesen Prozess begleite ich. Für mich sind Schauspieler sind Hochleistungssportler.
Zur Person
Julia Effertz , geboren 1980, ist Schauspielerin, Drehbuchautorin und Intimitäts-Koordinatorin mit polnischen und flämischen Wurzeln. Dreisprachig mit Englisch, Deutsch und Französisch aufgewachsen absolvierte Julia ihre Schauspielausbildung in Paris, Oxford und London. Im deutschen Fernsehen debütierte sie 2013 als Jürgen Prochnows Tochter in «Die Kinder meiner Tochter». Aktuell arbeitete Effertz am Set von «The Flight Attendant» (Warner/HBO) und «The Empress» (Netflix).
Ich habe in einem Interview mit Ihnen den Satz gelesen: «Küssen kann man nicht faken.»
Ja, genau. Simulierte Sexszenen sind oft sehr technisch, da kann man kameratechnisch auch tricksen. Beim Küssen haben wir tatsächlich Lippenkontakt. Das ist sehr intim und macht verletzlicher.
Tricksen bei Sexszenen: erzählen Sie uns mehr.
Wir arbeiten zum Beispiel mit hautfarbener Unterwäsche oder mit Intimbedeckungen. Meine wichtigste Ausrüstung in meiner Tasche ist hautfarbenes Tape.
«Intimszenen sind beim Dreh die letzte Grauzone, also eine narrative Leerstelle.»
Sie sind die erste zertifizierte Intimitäts-Coach Deutschlands. In der Schweiz habe ich kein Pendant gefunden. Wie sind Sie zu Ihrem Job gekommen?
Ich bin Schauspielerin aus Leidenschaft und kenne die Brisanz von intimen Szenen. 2018 bin ich wie jedes Jahr ans Filmfestival Cannes gefahren. Dort war Harvey Weinstein das grosse Thema. Die Branche hat diskutiert, wie es zu diesem Machtmissbrauch kommen konnte? Ist es ein systemisches Problem? In diesem Kontext traf ich auf die Pionierin der Intimitäts-Koordination Ita O’Brien. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, was das ist. Ich kannte damals nur Stunt-Koordinatoren.
Man kann also sagen, Harvey Weinstein hat Sie zu Ihrem heutigen Job geführt?
Ja, im weitesten Sinne. Zuerst musste die Weinstein-Zäsur in den USA passieren, dann musste man handeln. Seit der Me-Too-Problematik ist es wichtig geworden, über Arbeitsschutz zu reden.
Finden Sie auch, dass Sie als Intimitäts-Koordinatorin einen speziellen Beruf haben?
Es ist ein kreativer Beruf, der zum Glück dynamisch wächst. Ich würde mir wünschen, dass wir in ein paar Jahren davon reden, als wär es eine ganz normale Position am Set. So wie ein Stunt-Koordinator oder Tanz-Choreograf auch. Dass es in drei Jahren normal ist, über Arbeitsschutz zu reden, und unsere Position an Sets Standard geworden ist. Die Intimsphäre des Menschen wird immer verletzlich bleiben, aber es geht auch darum, bessere intime Szenen zu erzählen.
Bei welchen Filmen oder Serien haben Sie gedacht, da hätte es mich als Intimitäts-Koordinatorin dringend gebraucht?
Bei «50 Shades of Grey». Ich fand die Szenen überhaupt nicht sexy und man hätte das definitiv besser ausarbeiten können. Oder «Blau ist eine warme Farbe», ein bekanntes Negativ-Beispiel von Machtmissbrauch. Die Szenen sind voyeuristisch und ausbeuterisch. Wenn man genau hinsieht, dann merkt man, die Hauptdarstellerinnen wissen gar nicht, was sie schauspielern sollen. Es ist eine narrative Leerstelle.