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Bötschi fragt Michael Rauchenstein, Brüssel-Korrespondent: «Das Verhältnis Schweiz–EU ist verhärtet»
Von Bruno Bötschi
22.3.2021
Er war vier Wochen in Brüssel, als Belgien in den ersten Lockdown ging: SRF-Korrespondent Michael Rauchenstein über seinen denkwürdigen Stellenantritt, die Chancen des Rahmenabkommens und die Fahrkünste der Belgierinnen und Belgier.
Geplant war ein Live-Interview, doch das Coronavirus hatte etwas gegen ein persönliches Treffen. Michael Rauchenstein , TV-Korrespondent von SRF in Brüssel, sitzt deshalb zu Hause – bereit zum «Bötschi fragt»-Interview per Videoanruf.
Das Virus war in den vergangenen Monaten einer der treusten Begleiter Rauchensteins. Kaum war der 31-Jährige vor einem Jahr nach Brüssel gezogen, wurde in Belgien der Lockdown verhängt. Nachdem sich die pandemische Lage im Sommer im Benelux-Land etwas beruhigt hatte, wurde im vergangenen Oktober der nächste Lockdown verhängt – dieser gilt bis heute.
Sich deswegen unterkriegen lassen? «Nein», sagt Rauchenstein, der an der Universität Luzern und an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft studiert und vor drei Jahren mit dem Master abgeschlossen hat. Schliesslich ist für ihn als studierter Politologe die EU-Hauptstadt Brüssel beruflich sozusagen die Traumstadt schlechthin.
Rauchenstein wirkt an diesem Morgen konzentriert und gut gelaunt. Na dann, legen wir los mit den vielen Fragen.
Michael Rauchenstein, wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle Ihnen in den nächsten 30 Minuten möglichst viele Fragen – und Sie antworten möglichst schnell und spontan. Passt Ihnen eine Frage nicht, sagen Sie einfach ‹weiter›.
Das ist okay so für mich.
Wie viele Portionen belgische Pommes schaffen Sie?
Belgische Pommes sind unglaublich fettig, mehr als eine Portion schaffe ich nicht.
Wann zuletzt sich mit belgischen Pommes überessen?
Am EU-Gipfel im Juli 2020. Der dauerte vier Tage und fünf Nächte, also historisch lang. Da brauchte ich zwischendurch ziemlich viele Pommes als Nervennahrung.
Pommes beruhigen die Nerven?
Also mir helfen sie – was auch immer gut geht während stressigen Tagen ist Schoggi.
Wissen Sie, warum Pommes das Nationalgericht der Belgier ist?
In Belgien wird viel Kartoffel angebaut. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass die Belgier behaupten, sie seien die Erfinder der Pommes. Sie wehren sich jedenfalls immer, wenn Engländer die Pommes French Fries nennen.
Kennen Sie das Geheimnis der belgischen Pommes?
Zum Autor: Bruno Bötschi
«Blue News»-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten. Bötschi hat viel Erfahrung mit Interviews. Für die Zeitschrift «Schweizer Familie» betreute er jahrelang die Serie «Traumfänger». Über 200 Persönlichkeiten stellte er dafür die Frage: Als Kind hat man viele Träume – erinnern Sie sich? Das Buch zur Serie «Traumfänger» ist im Applaus Verlag, Zürich, erschienen. Es ist im Buchhandel erhältlich.
Die Pommes werden zweimal in Rindernierenfett gebraten. Sie sind deshalb sehr knusprig, aber wie gesagt auch sehr fettig. Zudem werden in Belgien zu den Pommes die unterschiedlichsten Saucen serviert.
Wofür ist Belgien – ausser den Pommes – sonst auf der ganzen Welt bekannt?
Belgisches Bier gibt es in Hülle und Fülle. Und das Land ist bekannt für seine Schokolade. Es wird ja immer wieder darum gestritten, ob Belgien oder die Schweiz die beste Schoggi der Welt herstellt.
Ihre Wertung bitte.
Die Schweizer Milchschokolade ist die beste weit und breit, Belgien produziert dafür sehr gute Pralinés.
Welche Brüsseler Qualität wird gern übersehen?
Die Lockerheit der Belgierinnen und Belgier. Das Savoir-vivre hierzulande ist dem der Franzosen nicht unähnlich. Das mag ich sehr.
Behauptet wird, Brüssel sei die hässliche Schwester von Paris.
Ich wehre mich immer wieder dagegen, wenn Leute sagen, Brüssel sei eine hässliche Stadt. Gerade in den Aussenquartieren von Brüssel gibt es einige sehr hübsche Ecken. Aber klar, insgesamt ist Paris die schönere Stadt.
Einverstanden, dass die 1993 verstorbene Schauspielerin Audrey Hepburn nach wie vor die berühmteste Belgierin ist?
Das kann ich nicht beurteilen. Es gibt einige Belgierinnen und Belgier, die berühmt sind. Auch Jacques Brel, der 1978 verstorbene belgische Chansonnier und Schauspieler, wird nach wie vor weltweit verehrt.
Weltbekannt ist Belgien zudem für seine Autobahnen: Nahezu alle sind beleuchtet.
Das stimmt und das sorgt auch immer wieder für Stirnrunzeln bei den Menschen, die Belgien besuchen. Ich selber fahre jedoch in Belgien nicht Auto.
Wissen Sie trotzdem, warum die Autobahnen in Belgien beleuchtet sind?
Nein, das weiss ich nicht. Ich habe mich bisher noch zu wenig mit der belgischen Verkehrspolitik auseinandergesetzt.
Wegen der Beleuchtung sieht man Belgiens Autobahnen sogar vom Mond aus.
Das wusste ich nicht.
Sind die Belgierinnen und Belgier Autofreaks?
Nicht, dass ich wüsste. Was mir immer wieder auffällt, ist, dass sie keine besonders guten Autofahrer sind. In Brüssel habe ich schon die ein oder andere brenzlige Verkehrssituation erleben müssen.
Ihr freakigster Gedanke als 10-Jähriger?
Ich war in der fünften Klasse und schaute im Fernsehen ‹Sport aktuell›. Danach sagte ich zu meinen Eltern: ‹Das will ich machen.›
Wirklich wahr, dass die ehemalige SRF-Sportmoderatorin Regula Späni schuld ist, dass Sie heute beim Schweizer Fernsehen arbeiten?
Das stimmt. Regula Späni moderierte an jenem Abend das ‹Sport aktuell›. Am nächsten Tag ging ich zu meiner Lehrerin und sagte zu ihr: ‹Ich will ins Fernsehen.› Sie ermunterte mich, Regula Späni zu schreiben und zu fragen, wie man zum Fernsehen kommt. Ich schrieb ihr also einen Brief, in dem ich ihr erklärte, dass ich Sportmoderator werden möchte.
Hat Regula Späni Ihnen geantwortet?
Ja. Sie lud mich zudem ein, sie während eines Tages im Fernsehstudio zu begleiten. Regula Späni ist auch schuld daran, dass ich mit 14 zur Jugendsendung ‹VideoGang› kam. In der Folge wurde sie meine Mentorin und ist bis heute eine meiner wichtigsten journalistischen Beraterinnen und längst auch eine gute Freundin geworden.
Wie war es, als Sie zum ersten Mal im Fernsehstudio standen?
Es fühlte sich an wie eine Traumwelt. Ich war total fasziniert und bin es bis heute geblieben. Während meiner Zeit im Leutschenbach spazierte ich deshalb öfter allein durch die Aufnahmestudios.
Ihre Faszination für Fernsehstudios ruft ja förmlich nach einer grossen Samstagabendkiste.
Wer weiss, aber der Samstagabend ist ja für die Unterhaltung reserviert. Meine Heimat ist jedoch der politische Journalismus. Doch wie heisst es so schön: Sag niemals nie.
Seit einem Jahr berichten Sie aus Brüssel. Kann man als SRF-Korrespondent eigentlich selber wählen, wohin man ins Ausland geschickt wird. Oder wer bestimmt das?
Ich habe mich ganz normal beworben auf die Ausschreibung. Anfänglich zweifelte ich zwar noch etwas, ob ich wirklich nach Brüssel gehen will.
Warum?
Ich war erst kurz vorher aus Berlin zurückgekommen, hatte dort während drei Jahren mein Masterstudium in Politikwissenschaft absolviert und daneben für den damaligen SRF-Korrespondenten Adrian Arnold als Redaktor gearbeitet. Einerseits wäre ich deshalb gern etwas in der Schweiz geblieben, andererseits ist Brüssel, Hauptstadt der Europäischen Union (EU), für mich als studierter Politologe beruflich so etwas wie eine Traumstadt.
Ihr Vorgänger, Sebastian Ramspeck, sagte über Brüssel: ‹Klar, es ist nicht der Ort, an den man geht, wenn man in der coolsten Stadt der Welt Korrespondent sein will.›
Da hat er wohl nicht Unrecht. Aber gleichzeitig ist die Europäische Union ein unglaublich spannendes Konstrukt, dass man erst richtig verstehen kann, wenn man eng in diesen Politikbetrieb eingeflochten ist. Und wo sonst auf der Welt, ausser in Washington D.C. und vielleicht noch in Peking, wird derart viel Weltpolitik auf so kleinem Raum gemacht?
Als Sie Ihren Job antraten, sagten Sie: ‹Ich gehe ohne Erwartungen nach Brüssel, weil man nie weiss, was als Nächstes kommt.›
Stehen wichtige Entscheide an, höre ich auf mein Bauchgefühl. Das tat ich auch im Fall von Brüssel.
Kaum waren Sie in Brüssel, wussten Sie was kommt: die Corona-Pandemie und der Lockdown. Thematisch hätte der Start nicht besser sein können.
Thematisch war es ein extrem spannender Start. Die EU schlitterte wegen der Corona-Pandemie in eine weitere Krise, so wie die meisten Nationalstaaten und die Schweiz auch. Dies wird allerdings oft beim Blick nach Brüssel vergessen: Es ist nicht nur die EU, die Probleme hat, es sind auch die einzelnen Staaten, die zurzeit zu kämpfen haben.
Neu in einer grossen Stadt und man kann nicht raus: Fühlten Sie sich in den letzten zwölf Monaten oft einsam?
Ich bin Ende Januar 2020 nach Brüssel gezogen, vier Wochen später wurde der erste Lockdown verhängt. Im ersten Monat lernte ich die Menschen kennen, die mich seither begleiten. Es sind vor allem Journalistinnen und Journalisten aus der Schweiz und Deutschland. Das vergangene Jahr war wegen der Lockdowns kein einfaches, aber ich fühle mich trotzdem wohl in Brüssel. Einzig im vergangenen Januar ist mir einmal kurz die gute Laune vergangen, weil das Wetter wirklich derart mies war. Ich war noch nie ein Januar-Fan, aber der Januar 2021 war bisher mein schlimmster überhaupt.
Welche Geschichte wollen Sie unbedingt in Ihrer Zeit als Brüssel-Korrespondent erzählen?
Ich würde gern die Migrationsgeschichte weitererzählen. Die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson ist eine spannende Person und mich fasziniert, wie sie für das Thema einsteht, das leider zu oft in den Hintergrund gedrängt wird.
Ihr SRF-Kollege Arthur Honegger träumte während seiner Zeit in Amerika davon, US-Präsident Barack Obama zu interviewen. Mit welcher Politikerin, welchem Politiker würden Sie gern einmal ein längeres TV-Gespräch führen?
Meine Favoritin ist Angela Merkel. Während meiner Tätigkeit für SRF in Berlin habe ich die Bundeskanzlerin immer wieder an Pressekonferenzen getroffen. Sie hat eine unglaubliche Aura. Mit Angela Merkel würde ich gern einmal ein längeres Gespräch führen, nicht zuletzt auch deshalb, weil es in ihrer politischen Tätigkeit Widersprüche gibt. Mich würde zudem wundernehmen, wie sie sich selber positioniert und wie sie mit der Macht, die sie als Bundeskanzlerin hat, lebt.
Wo arbeiten Sie in Brüssel?
Die SRF-Büros sind im internationalen Pressezentrum, direkt neben dem Gebäude der EU-Kommission, untergebracht.
Wie viele Menschen arbeiten für SRF in Brüssel?
Wir sind fünf Journalistinnen und Journalisten und eine Produzentin.
Wie bewegen Sie sich von A nach B in Brüssel?
Mit dem Velo. Als der Lockdown ausgerufen wurde, wollte ich nicht mehr mit der U-Bahn fahren. Hin und wieder spaziere ich auch ins Büro. Das dauert rund 45 Minuten.
Der Lockdown scheint demnach positive Auswirkungen auf Ihre persönliche Fitness zu haben?
Das stimmt. Was auch damit zu tun hat, dass ich den vergangenen Monaten eine äusserst sportliche Mitbewohnerin hatte. Sie nahm mich regelmässig mit ins Yoga, zum Bodypump und einmal in der Woche trainierten wir zusammen im Bootcamp.
Wer oder was hat Sie bei Ihrer Arbeit als EU-Korrespondent bisher am meisten beeindruckt?
Beeindruckt bin ich von Isabelle Ory, meiner Westschweizer Kollegin von TSR/RTS. Isabelle ist seit vielen Jahren in Brüssel und kennt das politische Rösslispiel der EU fast in- und auswendig.
Ihre Aufgabe ist es, den Zuschauerinnen und Zuschauern die Komplexität der EU verständlich zu präsentieren. Wo fragen Sie nach, wenn Sie selber einmal etwas nicht verstehen?
In erster Linie frage ich meine Kolleginnen und Kollegen im SRG-Büro in Brüssel. Hin und wieder, wenn ich eine länderspezifische Frage habe, hole ich mir Rat bei ausländischen Journalistenkollegen. Wenn ich gar nicht mehr weiterkomme, wende ich mich beispielsweise auch mal an Christa Tobler, Professorin für Europarecht am Europainstitut der Universität Basel.
Was kann Fernsehen nicht?
Die Intimität mit dem Zuschauer herstellen, wie das das Radio kann. Wenn man nur die Stimme hat, kann man näher beim Publikum sein als beim Fernsehen.
Die EU-Zentrale in Belgien steht für viele Schweizerinnen und Schweizer als Synonym für überbordende Bürokratie. Wahr oder nicht?
Nicht wahr.
Wirklich wahr, dass die EU-Kommission an jedem Werktag um 12 Uhr eine Medienkonferenz abhält?
Das stimmt, von Montag bis Freitag gibt es täglich eine Pressekonferenz. Sie findet meistens um die Mittagszeit statt. Meines Wissens ist die EU-Kommission die einzige politische Organisation, neben dem Weissen Haus in Washington, die regelmässig ein solches Pressebriefing abhält. Im Prinzip können wir Journalisten da jede beliebige Frage zur EU stellen.
Die Schweiz ist nicht EU-Mitglied. Merken Sie das während ihrer täglichen Arbeit?
Ja, das merke ich, auch wenn wir grundsätzlich gut eingebunden sind. Als Schweizer Journalist habe ich natürlich nicht dieselbe Bedeutung wie die Pressevertreter aus einem der 27 EU-Mitgliedstaaten.
Gibt es Veranstaltungen, bei denen Journalisten aus Nicht-EU-Ländern explizit nicht eingeladen sind?
Es gibt Briefings von den einzelnen Ländern, etwa vor einem EU-Gipfel, an die nur die Medienvertreter aus dem jeweiligen Land eingeladen werden.
Nach Gipfeltreffen geben die Staats- und Regierungschefs oft Pressekonferenzen in Brüssel: Haben Sie dort als Schweizer Journalist auch Zutritt?
Ja. Allerdings war ich bisher erst einmal physisch an einem solchen Gipfel dabei – und zwar im Februar 2020. Damals habe ich erlebt, wie Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, plötzlich ins Pressezentrum hereinkam und sofort von einer Traube von Journalistinnen und Journalisten umstellt war.
Die EU ist die wichtigste Partnerin der Schweiz, gleichzeitig aber auch die gewichtigste Verhandlungsgegnerin. Verkompliziert diese komplizierte Situation Ihre Arbeit?
Die aktuelle Situation mit den diversen Differenzen sorgt eher dafür, dass meine Arbeit spannender wird.
So grundsätzlich: Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung der EU und ihr Verhältnis zur Schweiz?
Ich denke, das Verhältnis ist verhärtet und zwar beidseitig.
In aller Kürze: Wie geht es weiter mit dem bilateralen Rahmenabkommen?
Ehrlich gesagt, ich sehe aktuell nicht, dass man sich beim Rahmenabkommen finden wird.
Sie glauben demnach nicht, dass die EU bei den drei Streitpunkten in den aktuellen Gesprächen nachgeben wird, so wie sich die Schweiz das erhofft?
Vielleicht wird die EU in einem oder anderen Punkt der Schweiz etwas entgegenkommen. Insgesamt werden die Forderungen der Schweiz jedoch kaum erfüllt werden. Was auch damit zu tun hat, dass die EU sich auf den Standpunkt stellt, dass der Vertrag fertig verhandelt worden ist und man deshalb mit den Verhandlungen nicht nochmals von vorne beginnen möchte.
Ohne Klärungen beim Streitmechanismus: Ist das Rahmenabkommen innenpolitisch mehrheitsfähig?
Wahrscheinlich nicht. Aber natürlich wird hier in Brüssel die aktuelle politische Stimmung in der Schweiz sehr genau beobachtet. Gleichzeitig muss man sich vor Augen führen: Es sind 27 EU-Staaten auf der einen Seite und die Schweiz als Einzelstaat auf der anderen. Warum sollten 27 Staaten nachgeben, weil ein einzelner Staat das so wünscht? Und nochmals: Der Vertrag ist vor Längerem ausgehandelt worden und die Schweiz, in der Rolle von Staatssekretär Roberto Balzaretti, hat ihm damals auch zugestimmt.
Seien Sie ehrlich: Dass das Rahmenabkommen noch zu einem Abschluss kommt, ist etwa so realistisch wie Schnee im Juli im Schweizer Flachland.
Sie haben wahrscheinlich recht, aber wir dürfen etwas nicht vergessen: Sollte es, was wir heute noch nicht wissen, zu einer Abstimmung in der Schweiz über ein bilaterales Rahmenabkommen kommen, wissen wir nicht, wie sich das Volk entscheiden wird. Die aktuelle Debatte in der Schweiz fokussiert sich zurzeit stark auf die politischen Parteien. Aber wer weiss, was wirklich passiert, wenn es zur Abstimmung kommt? Werden die Parteien sich wirklich alle gegen das Abkommen stellen?
Wie schlimm wäre es für die Schweiz, wenn kein Rahmenabkommen verabschiedet würde?
In einem ersten Schritt wäre das wahrscheinlich nicht besonders schlimm. Ich denke, die Beziehungen würden vorerst weiterlaufen wie bisher, denn es sind gute Beziehungen. Die Frage ist jedoch: Was geschieht in Zukunft? Was passiert mit dem Gesundheitsabkommen? Und was mit dem Stromabkommen? Ich könnte mir vorstellen, dass die EU künftig dafür keine Hand mehr bieten wird, nicht zuletzt auch im Bereich Forschung. Ich persönlich finde, dass in der Schweiz viel zu wenig über Horizon, das EU-Förderprogramm für Forschung und Innovation, diskutiert wird. Dort wird unser Land bereits heute nur noch als Drittstaat angesehen. Unsere Wirtschaft würde eine verhärtete Beziehung mit der EU schmerzhaft zu spüren bekommen.
Schlimmste Nachricht, die Sie bisher als EU-Korrespondent am Fernsehen überbringen mussten?
Schlimm fand ich, als ich im Frühling 2020 die europaweiten Grenzschliessungen wegen der Corona-Pandemie vermelden musste. Ich bin wie erwähnt erst einige Wochen vorher nach Brüssel gezogen und durfte mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen das Land nicht mehr verlassen.
Was sind aus Ihrer persönlichen Sicht die grössten Unterschiede in der Politarbeit zwischen den Schweizer Parlamenten und dem EU-Parlament?
Das Schweizer Parlament hat eine deutlich wichtigere Rolle im politischen Prozess. Der National- und Ständerat kann Gesetzesinitiativen lancieren, das EU-Parlament kann dies nicht. Im EU-Parlament kommen zudem sehr viele unterschiedliche Kulturen zusammen, was das Erarbeiten von gemeinsamen Lösungen hin und wieder schwierig macht.
Berufskrankheit Abgeklärtheit?
Ja. Ich lebe damit, es ist sozusagen part of the game.
Ihnen bleiben manchmal nur wenige Minuten, bis Sie Informationen verkünden müssen. Kennen Sie irgendwelche Rituale vor Live-Schaltungen?
Rituale kenne ich nicht, aber ich arbeite immer nach dem gleichen Ablauf. Nachdem ich den Text für die Schaltung aufgeschrieben habe, habe ich ihn meistens im Gedächtnis. Für die Live-Schaltung notiere ich mir dann nur noch Stichwörter auf einem Blatt Papier.
Sie wirken älter, als Sie sind: Ist das Ihr Erfolgsrezept?
Das kann ich selber nicht beurteilen. Wenn Sie das so wahrnehmen, ist es aber sicher positiv.
Ehemalige Arbeitskolleginnen und -kollegen behaupten: Sie hätten eine tolle Arbeitsmoral.
Ich arbeite viel und gern. Was auch damit zu tun hat, weil Journalist der Beruf ist, den ich immer ergreifen wollte. Ich erachte es übrigens durchaus als Privileg, heute für SRF tätig sein dürfen.
Was haben Sie bei Drehreisen, also wenn Sie auf Reportage sind, immer dabei?
Einen kleinen Koffer mit zwei, drei verschiedenen Hemden und Krawatten. Je nach Themenlage kann es immer passieren, dass ich abends noch eine Live-Schaltung für die ‹Tagessschau› oder ‹10 vor 10› absolvieren muss.
Wie ist eigentlich das Wetter in Belgien?
Nicht so schlecht wie sein Ruf. Bevor ich nach Brüssel zog, wurde ich gewarnt, in Belgien würde es ständig regnen. Aber ehrlich gesagt, war das Wetter im vergangenen Sommer fast immer schön. Eine Eigenheit des belgischen Wetters ist zudem, dass es schnell wechseln kann. Es kommt vor, dass es am Morgen heftig regnet, dann ist einen halben Tag wunderschön und am Abend regnet es nochmals. Ich bin kein Meteorologe, aber ich könnte mir vorstellen, dass das mit der Nähe zum Meer zu tun hat.
Ihr Lieblingsort in Brüssel?
Beim Justizpalast gibt es ein Mäuerchen, wo ich mich gern hinsetze und die Aussicht über die Stadt geniesse.
Ihr Lieblingsstrand in Belgien?
Der liegt in De Haan oder Le Coq, wie das Städtchen auf Französisch heisst. Es ist einer der wenigen nicht total verbauten belgischen Küstenorte. Der Rest der Küste ist grösstenteils mit Hotelkomplexen verbaut.
In einem Satz: Wie werben Sie für Brüssel?
Eine multikulturelle, lockere Stadt.
Was hat Brüssel, was Lachen SZ, wo Sie aufgewachsen sind, nicht hat?
In Brüssel leben viele Kulturen zusammen. Zudem schätze ich die Apérokultur der Belgierinnen und Belgier.
Was hat Lachen, was Brüssel nicht hat?
Lachen hat eine Vertrautheit für mich, weil ich dort aufgewachsen bin und viele Menschen kenne. Und nicht zu vergessen: der Zürichsee.
Lachen hat noch eine weitere Weltsensation zu bieten: drei Bahnhofstrassen, die vordere, mittlere und hintere.
Sie haben recht, das war mir bisher so noch gar nicht richtig bewusst.
Das Land Belgien ist von innerer Zerrissenheit – vor allem zwischen der flämischen, also der niederländischsprachigen, und der in Wallonien und in Brüssel lebenden frankofonen, also französischsprachigen Volksgruppe – geprägt. Ist dieses Problem mit dem Röstigraben in der Schweiz vergleichbar?
Die Probleme zwischen den beiden Landesteilen in Belgien sind tiefer und deutlich komplizierter als in der Schweiz. Der Röstigraben ist grösstenteils ein kultureller Graben. In Belgien prallen jedoch zwei unterschiedliche Philosophien, zwei unterschiedliche Lebensarten aufeinander. Es gibt Wallonen, die nicht mit Menschen aus Flandern reden würden – und umgekehrt.
Ein Gerücht mitten aus Brüssel, das Michael Rauchenstein heute exklusiv auf ‹blue News› explodieren lässt.
Tut mir leid, da muss ich passen.
In die Schlagzeilen kam letztes Jahr der frühere belgische König Albert II. Ein Brüsseler Gericht hat Delphine Boël nach jahrelangem Rechtsstreit offiziell als seine Tochter anerkannt.
Privat habe ich die Geschichte etwas mitverfolgt, aber für meine journalistische Arbeit waren die belgischen Royals bisher nicht wirklich Thema. Ich gebe aber gern zu, dass ich ein Fan der englischen Queen bin.
Es heisst, Delphine Boël, die nun Delphine von Sachsen-Coburg und Gotha heisst, wolle ihre Geschichte in einem Buch verarbeiten. Wissen Sie schon mehr darüber?
Sorry, ich bin möglicherweise zu stark in meiner Politik-Bubble verhaftet, als dass ich Ihnen darüber Auskunft geben könnte.
Welches Buch liegt zurzeit auf Ihrem Nachttisch?
‹Cheers – Feiern mit der Business Class› von Martin Suter.
Welches Buch haben Sie zweimal gelesen?
Keines.
Wo liegt der vollends entspannte Michael Rauchenstein?
Auf dem Sofa in meiner Brüsseler Wohnung.
Mit oder ohne Musik von Angèle?
Ohne.
Sie kennen demnach die belgische Sängerin Angèle nicht?
Ich kenne sie, höre aber ihre Musik nur selten. Ich gebe zu, mein Musikgeschmack ist etwas langweilig. Ich höre Chartmusik und mag Pop und Rap aus Frankreich. Eine meiner Lieblingsendungen ist die Hitparade, die jeweils am Samstagnachmittag auf dem belgischen Radiosender Contact zu hören ist.
Was vermissen Sie am meisten aus Ihrer Heimat?
Ich bin ein Heimweh-Schweizer. Am meisten vermisse ich meine Familie und meine Freunde. Und ich vermisse den Zürichsee und die Berge.
Wir kommen zur letzten Frage.
Schon? Ich habe heute Morgen extra zur Vorbereitung Ihr Interview mit Mundartsänger Kunz gelesen und gedacht, was ich antworten würde, wenn Sie mich fragen täten, welchen Mann ich nicht von der Bettkante stossen würde?
Wie würde Ihre Antwort lauten?
Weiter.
Okay, dann kann ich Ihnen ja noch die Frage stellen, die Frauen immer wieder gestellt wird: Wollen Sie Kinder?
Bisher habe ich noch keine und weiss auch nicht, ob ich je Kinder haben möchte. Meine Schwestern, sie sind beide deutlich älter als ich, haben jedoch Kinder und es macht mir immer viel Freude, etwas mit ihnen zu unternehmen.
Herr Rauchenstein, Sie sind schwul. Ich stelle es mir deshalb einigermassen kompliziert vor, wenn zwei Männer Kinder haben wollen.
Ach, es gibt heute diverse Möglichkeiten, wie das trotzdem gelingen kann. Aber damit dies überhaupt infrage käme, bräuchte ich zuerst den passenden Partner.
Sie sind demnach Single?
Ja.
Wie lange wollen Sie in Brüssel bleiben?
Der Vertrag mit SRF ist für fünf Jahre ausgestellt. Ich habe zudem das Glück, dass ich einen Anschlussvertrag habe. Das heisst, ich kann danach wieder auf der Auslandredaktion in Zürich arbeiten.
Eine angenehme Ausgangslage.
Durchaus. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ich den Job vielleicht nicht angenommen.
Noch mehr «Bötschi fragt»-Gespräche gibt es unter diesem Link.