Situation in der Schweiz «Alltags-Rassismus hat sehr viele Gesichter»

Von Gil Bieler

21.3.2023

Das Thema wird präsenter: Anti-Rassismus-Kundgebung in Lausanne im Juni 2020. 
Das Thema wird präsenter: Anti-Rassismus-Kundgebung in Lausanne im Juni 2020. 
Keystone

Immerhin: Auch in der Schweiz werde heute von Rassismus gesprochen, statt «nur» von Fremdenfeindlichkeit. Ein Fortschritt, sagt Gina Vega von der Opferberatung. Doch die strukturellen Probleme blieben gravierend.

Von Gil Bieler

Frau Vega, hat sich die Situation von Rassismus-Betroffenen in der Schweiz in den vergangenen Jahren verbessert?

Ich kann nicht sagen, ob sich die Situation generell verbessert hat. Was sich aber verbessert hat, ist, dass über das Thema Rassismus mehr gesprochen wird. Wir sprechen jetzt wenigstens von Rassismus und nicht mehr «nur» von Fremdenfeindlichkeit oder Ausländerfeindlichkeit. Das Thema ist sichtbarer geworden: Viele Menschen wissen heute, was Rassismus ist und was das für Betroffene bedeutet. Beim Beratungsnetz für Rassismusopfer merken wir, dass sich auch mehr Menschen melden und bereit sind, sich gegen Rassismus einzusetzen. Das ist sicherlich eine Verbesserung der letzten Jahre. Dass sich aber die konkrete Situation für den Einzelnen oder die Einzelne gebessert hat, glaube ich nicht.

Wieso nicht?

Zur Person
Leiterin des schweizerischen Beratungsnetzes für Rassismusopfer
zVg

Zum Internationalen Tag gegen Rassismus sprach blue News mit Gina Vega. Sie leitet das schweizerische Beratungsnetz für Rassismusopfer und ist Leiterin der Fachstelle Diskriminierung und Rassismus bei Humanrights.ch. Vega hat Ethnologie und Soziologie studiert.

Es gibt zwar viele Organisationen, Institutionen und auch Unternehmen, die sich mit dem Thema Rassismus befassen, aber nicht vertieft genug, damit strukturelle und institutionelle Veränderungen möglich wären. Ein Workshop von wenigen Stunden reicht dafür nicht aus. Was es braucht, ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Thema und die Bereitschaft, nachhaltige Massnahmen gegen Rassismus und rassistische Diskriminierung zu ergreifen.

Eine Expertengruppe der UNO kritisierte 2022 «systematischen Rassismus» in der Schweiz. Der Schweizer UNO-Botschafter sprach dagegen von «Einzelfällen». Nehmen die Behörden das Thema genug ernst?

Ich glaube nicht. Das Thema ist bei den Schweizer Behörden und in der Politik noch nicht ganz angekommen. Mir fehlen immer noch eine klare Haltung und Entschlossenheit, kompromisslos und konsequent gegen Rassismus und Diskriminierung vorzugehen. Es wird immer wieder auf den «Einzelfall» verwiesen. Aber wenn das so wäre, wieso bekommen wir vom Beratungsnetz für Rassismusopfer dann immer wieder Meldungen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen, die überall in der Schweiz auftreten? Wir sprechen hier also nicht von Einzelfällen, sondern von kollektiven Erfahrungen – von Rassismus als einem strukturellen und gesamtgesellschaftlichen Problem.

In welchen Alltagsbereichen ist Rassismus besonders ausgeprägt?

Rassismus greift in allen Lebensbereichen ein, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, aber auch im Bildungsbereich und Gesundheitswesen. Hinzu kommt der Alltagsrassismus, der im privaten Bereich immer wieder zu beobachten ist. Dieser Alltagsrassismus hat sehr viele Gesichter. Das geht von rassistischen Sprüchen und Beleidigungen bis zu gezielten Erniedrigungen, mit denen Menschen aufgrund ihres Namens, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Akzents oder ihrer Religion konfrontiert werden.

Werden wir konkret. Wenn jemand am Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld von einer anderen Person rassistisch beleidigt wird, wie soll man sich wehren?

Zunächst müssen die Betroffenen wissen: Ihre Erlebnisse sind wichtig und es sind auch keine Einzelfälle. Sie sind mit diesem Problem nicht allein. Ich empfehle in der Regel, dass Betroffene sich geschützte Räume suchen, wo sie mit Vertrauenspersonen über das Geschehene sprechen können. Das ist sehr wichtig, denn das Sprechen über rassistische Erlebnisse bewirkt schon eine gewisse Heilung. Wenn man Erlebnisse ignoriert oder unterdrückt, können sich diese auf andere Weise bemerkbar machen, zum Beispiel durch ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit.

Wichtig ist auch zu wissen, dass es Beratungsstellen gibt, die einem dabei helfen, das Erlebte zu verarbeiten – und wo man seine Handlungsmöglichkeiten besprechen kann. Es ist wichtig, dass wir Rassismus anprangern. Gleichzeitig muss aber jede und jeder selber entscheiden, was für sie oder ihn der richtige Weg ist. Die Frage muss dabei immer lauten: Was tut mir gut in dieser Situation?

Kundgebung gegen Rassismus im Juni 2020 in Bern.
Kundgebung gegen Rassismus im Juni 2020 in Bern.
Bild: Keystone

Sollten von Rassismus betroffene Personen immer auch jene Leute konfrontieren, die sich rassistisch geäussert haben?

Das hängt von der Situation ab: Gibt es ein Abhängigkeitsverhältnis, zum Beispiel zum Arbeitgeber oder in der Schule? Dann muss man genau überlegen, wie das Problem am besten adressiert werden kann. Das lässt sich im Rahmen einer Beratung machen, in der die individuellen Umstände berücksichtigt werden.

Wenn ich als Aussenstehender mitbekomme, dass jemand anderes zum Beispiel im öffentlichen Verkehr rassistisch beleidigt wird: Wie soll ich mich verhalten?

Aussenstehende können die direkt betroffene Person immer auf die eine oder andere Weise unterstützen. Ein gutes Vorgehen kann es sein, zu fragen: «Wie kann ich Ihnen helfen?» Man kann sich auch als Zeuge anbieten für eine allfällige Anzeige. Je nach Situation hilft es auch, dem Täter oder der Täterin zu widersprechen oder das rassistische Verhalten infrage zu stellen. Zivilcourage zu zeigen, ohne sich selber in Gefahr zu bringen. Und ebenfalls wichtig: Auch nicht direkt betroffene Personen können Vorfälle bei den Beratungsstellen melden.