Urs Fischer ist seit letztem Sommer Trainer des deutschen Zweitligisten Union Berlin. Der Zürcher befindet sich mit dem Klub aus Köpenick im Rennen um den Aufstieg in die Bundesliga.
Fischer, 53, liegt mit Union sechs Runden vor Schluss hinter dem 1. FC Köln und dem Hamburger SV auf Platz 3, der zur Teilnahme an den Relegationsspielen berechtigen würde.
Im Interview spricht der frühere Meistertrainer des FC Basel über seine ersten Erfahrungen im Ausland, seine «Aha»-Erlebnisse beim Kultklub aus dem Osten Berlins, über die Faszination 2. Bundesliga, das sich immer schneller drehende Trainergeschäft und das Leben in der Grossstadt Berlin.
Urs Fischer, Union Berlin steht sechs Runden vor Ende der Saison auf Platz 3 in der Tabelle und hat Chancen, in die Bundesliga aufzusteigen. Hätten Sie dies erwartet, als Sie im Sommer den Job angetreten haben?
Man will sich in einer Meisterschaft immer so weit vorne wie möglich klassieren, egal was die Voraussetzungen sind. Union ist seit längerer Zeit in der 2. Liga und etabliert, klar hat man da gewisse Ambitionen im Kopf. Vor zwei Jahren war man phasenweise Erster, letzte Saison in der Winterpause Vierter. In der Rückrunde fiel man zurück, erst drei Runden vor Schluss war der Ligaerhalt gesichert. Es kam zu einem grossen Umbruch im Kader, es kam ein neuer Sportdirektor, ein neues Trainergespann. Das ist ziemlich viel, weswegen der Verein eine realistische Zielsetzung herausgegeben hat: Wir wollen uns tabellarisch verbessern und die Spielweise stabilisieren. Das ist uns gelungen. Dass wir noch im Rennen um den Aufstieg sind, ist umso schöner.
Aus den letzten drei Spielen holte Union nur einen Punkt. Warum harzt es derzeit etwas?
Eine Meisterschaft ist ein Marathon, in dem es solche Phasen gibt, in der wir jetzt stecken. Andere Teams hatten diese Anfang oder Mitte Saison, es gilt diese zu überstehen. Auf die Zähne beissen, dranbleiben, nicht aufgeben. Die Liga ist unheimlich schwierig, jeder kann jeden schlagen, es braucht immer eine Top-Leistung, wenn man als Sieger vom Platz gehen will. Wenn es normal läuft, müssten Köln und der HSV vom Potenzial die Plätze 1 und 2 belegen, eine stattliche Anzahl an Teams kämpft dahinter um Platz 3.
Es gab zuletzt Kritik, dass Union zu wenig deutlich den Aufstieg als neues Ziel ausruft.
Der Verein hat eine Zielsetzung herausgegeben, und wir sind auf dem besten Weg, diese zu erreichen. Hat jemand von uns gesagt, wir wollen nicht Dritter oder Zweiter werden? Wir wollen den 3. Platz verteidigen und weiter ein Wörtchen mitreden. Aber ich kenne die Presse. Sie will eine Schlagzeile, die sie einem später wieder um die Ohren schlagen kann. Müssen wir da mitspielen? Nein. Wir nehmen dies einfach zur Kenntnis.
Hilft Ihnen die Erfahrung, die Sie beim FC Basel gemacht haben, als es nach zwei Niederlagen in Folge auch bereits Kritik gab?
Natürlich hilft diese. Ich verstehe die Presse, Schlagzeilen verkaufen sich nun mal besser. Aber man muss aufpassen, dass man nicht jemandem Worte in den Mund legt, die so nie gefallen sind. Wenn wir am Ende Fünfter oder Sechster sind, werden wir nicht zufrieden sein, weil mehr möglich gewesen wäre. Wir sind nach wie vor in einer fantastischen Ausgangslage und das ist etwas Positives. Ich will nicht beschwichtigen, es ist unsere Sichtweise, diese vertrete ich. Aber jeder darf seine Meinung haben.
Wie erleben Sie die 2. Bundesliga?
Ich habe schon früh begonnen, die Liga zu verfolgen, weil es Anfragen gab. Ich wusste, dass eine gute Stimmung herrscht, aber wenn man dann selber im Stadion ist ... – unsere Heimspiele sind fast immer ausverkauft. Wir spielten in Köln und Hamburg vor über 50‘000 Zuschauern, in Dresden vor 30‘000. Der Stellenwert ist viel höher, es wird viel über Fussball diskutiert, die 2. Liga wird den Leuten ins Wohnzimmer gebracht. Es gab zu Beginn einige Aha-Erlebnisse, wie das erste Freundschaftsspiel gegen Carl Zeiss Jena, als 12‘000 Zuschauer kamen – zu einem Freundschaftsspiel! Im Trainingslager in Südspanien waren jeweils 400 Fans beim Training. Das ist einfach eine andere Dimension.
Wie haben Sie den Start in Berlin erlebt?
Ich wusste nicht recht, was mich erwarten würde, hinzu kam die Sprache. Wir sprechen zwar Hochdeutsch in der Schule und schreiben Aufsätze. Aber sich dann zu äussern, die richtigen Worte zu finden in einer Fremdsprache, ist ganz etwas anderes als in Schweizerdeutsch. Bei den ersten Pressekonferenzen habe ich geschwitzt, inzwischen habe ich eine gewisse Sicherheit, dass ich nicht mehr nach Worten suchen oder studieren muss. Deutschland ist von der Rhetorik her eine andere Liga, das stelle ich auch fest, wenn ich im Fernsehen Sportsendungen schaue.
Was haben Sie ausserhalb des Fussballs für Erfahrungen gesammelt?
Es braucht eine Weile, bis alles einmal läuft mit Wohnung und Versicherungen. Wenn du mehr als 50 Jahre in der Schweiz gelebt hast, weisst du, wie das Leben dort funktioniert. Deutschland ist zwar nicht gleich eine andere Welt, aber es sind Erfahrungen, die sehr wertvoll sind. Gelegentlich wurde ich gefragt, ob ich mit meinem Wechsel nach Berlin einen Schritt zurück gemacht habe? Wie man auf so eine Idee kommen kann, weiss ich nicht.
Hätten Sie den Schritt ins Ausland früher wagen sollen?
Nein. Am Schluss ist es so gelaufen, wie es gelaufen ist. Ich bewege mich in der Gegenwart und schaue weder zu weit in die Zukunft noch in die Vergangenheit zurück. Im Tagesgeschäft fühle ich mich wohl. Wenn man sieht, wie schnell die Trainer heute kommen und gehen, macht es keinen Sinn, schon ein Jahr im Voraus zu planen. Die Realität holt einen schnell ein.
Sie hatten bei allen Ihren Stationen Erfolge gefeiert. Was sind die Grundpfeiler ihrer Fussball- und Führungsphilosophie?
Es braucht sicherlich immer ein wenig Glück. Aber wie ich mit Menschen umgehe, ist sicherlich nicht so falsch und eine Stärke von mir. Ich versuche, die Leute so zu behandeln, wie ich das Gefühl habe, so müsste ich behandelt werden. Bernhard Heusler hat mir einmal gesagt, er habe noch nie erlebt, wie man eine Mannschaft so erwachsen und ohne Nebengeräusche führen kann, was sicherlich damit zu tun hat, wie ich mit Menschen umgehe.
Und fussballerisch?
Mein Ansatz war immer: Man braucht sowohl vorn als auch hinten eine gute Organisation. Darauf lege ich grossen Wert. Man muss Spielraum geben für eine gewisse Kreativität, aber es braucht ein Grundgerüst, in dem sich die Spieler bewegen. Es gilt, die richtige Mischung zu finden.
Gab es Schlüsselmomente in Ihrer Karriere als Trainer?
In Zürich erlebte ich meine erste Entlassung, was eine ganz wichtige Erfahrung war. Und auch, dass ich danach noch immer gefragt war und es in Thun weitergegangen ist. Ich konnte meinen Rucksack füllen, damit ich für Basel einigermassen vorbereitet war. Und diese Erfahrung beim FCB hat mir sicherlich geholfen, um mit einem gewissen Selbstvertrauen an die Aufgabe hier in Berlin herangehen zu können.
Sie gelten als bodenständig, authentisch, ehrlich und direkt. In der Schweiz schien es, als würden Sie in dieser Schublade feststecken. Hat Sie das genervt?
Genervt ist der richtige Ausdruck, ja. Aber nur eine gewisse Zeit lang, irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Ich habe nie ganz verstanden, warum diese Attribute einen negativen Touch haben. Aber man lernt damit umzugehen. Jeder muss selber für sich wissen, wie er solche Werte für sich einordnet, ob diese eher negativ oder positiv sind.
Welche Visionen haben Sie als Trainer?
Für mich zählt die laufende Saison, die ich so erfolgreich wie möglich abschliessen will. Dann werden wir uns zusammensetzen und analysieren. Was wollen wir? Wohin soll es gehen? Dementsprechend werden wir uns wieder vorbereiten und die nächste Aufgabe in Angriff nehmen. Ich habe nicht im Kopf, wo ich in drei Jahren Trainer sein will. Ich versuche, dass ich auch nächste Saison noch hier Trainer bin (lacht).
Die Trainer-Karussell dreht sich immer schneller. Die Grasshoppers wechselten bereits nach 33 Tagen wieder den Trainer.
Gewisse Vorgänge verstehe ich nicht. Damit etwas entstehen kann, muss doch auch einmal eine Phase überstanden werden, in der es nicht so gut läuft. Es geht auch darum, einmal einen Sturm zusammen zu überstehen, wenn man überzeugt voneinander ist. Und wenn es so richtig «huddlet», darf man doch nicht den Captain von Bord nehmen. Klar ist die Rangliste sehr wichtig, in jedem Verein geht es auch um Arbeitsplätze und somit ums Eingemachte. Trotzdem muss es auch einmal möglich sein, eine etwas schlechtere Saison zu spielen.
Union Berlin geniesst Kultstatus. Wie erleben Sie diesen Klub?
Er ist eine Familie, in der Werte gelebt werden und nicht nur darüber gesprochen wird. Das Stadion wurde von den Fans mitgebaut, Leute gaben ihre Freizeit und Ferien her, um mitzuhelfen. Wenn der Vorverkauf startet, gibt es morgens um 7 Uhr meterlange Schlangen vor dem Stadion. Leute übernachten da, um ein Ticket zu kriegen – wie vor dem Apple-Store, wenn das neue iPhone herauskommt. Die Vereinsfarben sind ein Teil ihres Lebens, das spürt man.
Wie erleben Sie die Metropole Berlin?
Ich dachte immer, ich komme aus Zürich, aus einer Grossstadt. Nun weiss ich aber, was das Wort Grossstadt bedeutet. Von der einen Stadtgrenze bis zur anderen sind es 50 bis 60 Kilometer, das ist beinahe die Strecke Zürich – Basel. Wie gross die Stadt ist, merkt man aber erst, wenn man sich darin bewegt. Berlin hat eine solche Bandbreite an Kultur und Geschichte, es gibt in jedem Bezirk viele gute Restaurants, und im Zentrum ist immer etwas los.
Welcher Ort hat Sie am meisten beeindruckt?
Einmal die Mauer zu sehen, ist schon speziell. Ich habe die damaligen politischen Geschehnisse als junger Erwachsener in der Schweiz in den Nachrichten verfolgt. Wenn man dann an dieser Mauer steht und am Denkmal die eine oder andere Geschichte liest, löst dies in einem schon etwas aus.
SDA