Würdigung Der erfolgreichste Schweizer Fussballer verlässt die Bühne

sda

12.8.2020

Stephan Lichtsteiner hat sich entschieden, seine Karriere nach 18 Saisons als Profi zu beenden. Es verlässt nicht nur der erfolgreichste Schweizer Fussballer die Bühne, sondern auch eine charismatische Persönlichkeit, die stets Leidenschaft vorgelebt hat.

Der Schluss passte nicht mehr zu dem, was zuvor während fast zweier Jahrzehnte gewesen war. In der Rückrunde der Bundesliga stand Lichtsteiner bei Augsburg nur noch dreimal in der Startformation. Er konnte so kein Führungsspieler und Leistungsträger mehr sein. Ein Anspruch, den er während seiner Karriere stets an sich selber gestellt hat und dem er in den Jahren zuvor auch immer gerecht geworden ist. Gesetzt war er sogar in der Weltauswahl von Juventus Turin, mit der er zwischen 2012 und 2018 sieben Meistertitel in Serie gefeiert und zweimal im Final der Champions League gestanden hat.

Erste Auslandstation: Lille

Juventus Turin! In einem solchen Weltklub zu spielen, war immer der Traum gewesen von Lichtsteiner. Er hat ihn sich erfüllt im Sommer 2011 – auch, weil er in den Jahren zuvor seine Karriere mustergültig geplant hatte. Lichtsteiner war nicht übereilt von 0 auf 100 gegangen. Als nach drei Saisons in der Super League bei den Grasshoppers das Ausland lockte, zog er «nur» nach Frankreich und «nur» zu Lille. «Hier komme ich meinem Ziel, einem Wechsel in einen ganz grossen Klub, einen Schritt näher», sagte Lichtsteiner nach einem Jahr in Lille in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Sportinformation.



Als er dies sagte, im Sommer 2006, hatte er gerade die WM-Endrunde in Deutschland mit der Schweiz verpasst. Nationaltrainer Köbi Kuhn hatte ihn nicht aufgeboten. Eine leichte Enttäuschung war das für den damals 22-jährigen Innerschweizer zwar schon, mehr aber nicht – was verwundert mit Blick auf den Ehrgeiz, manchmal auch die Verbissenheit, welche stets auch eine Stärke von Lichtsteiner waren. Aus heutiger Sicht ist seine damalige Aussage bemerkenswert: «Ich denke nicht Tag und Nacht an die Nationalmannschaft. Ich versuche, mich ständig zu verbessern. Wenn ein Länderspiel dabei herausspringt, umso besser. Wenn nicht, bin ich natürlich sehr enttäuscht, aber es ist kein Weltuntergang», sagte Lichtsteiner vor 14 Jahren.

Länderspiel-Debüt gegen Brasilien

Das erste Länderspiel sprang dann schon kurz darauf heraus, in einem Testspiel gegen Brasilien. 107 weitere Spiele für die Schweiz folgten, fünf WM- und EM-Endrunden inklusive. Auch im Nationalteam ging Lichtsteiner Schritt für Schritt. Er kam im Herbst 2006 als Back-up von Philipp Degen ins Aufgebot, war ein Jahr später Stammspieler, ab 2011 nach den Abgängen von Alex Frei, Marco Streller und Benjamin Huggel einflussreicher Führungsspieler und seit 2016 Captain.

Doch die Zahlen allein, die diesen Werdegang dokumentieren, so imposant dieser auch ist, werden dem Nationalspieler Stephan Lichtsteiner nicht gerecht. Denn er war mehr als bloss einer mit über 100 Länderspielen. Mehr als bloss ein fünffacher WM- und EM-Teilnehmer. Mehr als bloss ein Captain. Lichtsteiner war eine Figur, eine Persönlichkeit, wie sie im modernen Fussball selten geworden ist. Er eckte an, er spornte an. Er hätte im multikulturellen Nationalteam aufgrund seines durch und durch schweizerischen Hintergrundes ein Aussenseiter sein können.

Doch Lichtsteiner war der Chef, den alle respektierten. Er stiess 2015 mit seiner Aussage in einem Interview über «sogenannt richtige und andere Schweizer» eine Debatte an, die weit über das Rasenviereck und das Fussball-Nationalteam hinausgetragen wurde – und war drei Jahre später doch der Erste, der mit den gebürtigen Kosovaren Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri seine Finger zum albanischen Doppeladler formte. Lichtsteiner sprach oft von den Schweizer Werten und galt als der Ur-Eidgenosse im global ausgerichteten Mikrokosmos der Nationalmannschaft – verbrachte selbst aber 15 seiner 18 Profijahre im Ausland.

Einem anderen hätte man dies alles womöglich als Widersprüchlichkeit ausgelegt. Bei Lichtsteiner aber, der sich auf dem Platz gegenüber Freund und Feind (und Schiedsrichter) oft rüpelhaft benahm, war dies Ausdruck einer bemerkenswerten Sensibilität und einem feinen Gespür für die Strömungen innerhalb des Teams.

«Es geht um Leistung und Erfolg»

Er selber definierte sein Dasein als Profi gegen aussen über die Resultate. «Im Fussball geht es um Leistung und Erfolge», sagte er stets. Und einmal, als sich die Karriere dem Ende zuneigte, aber noch nicht zu Ende war, meinte er: «Ich spiele, bis es mich ‹vertätscht›!» Im Spiel rannte Lichtsteiner auf der rechten Seite rauf und runter. In der Karriere gab es für ihn immer noch ein nächstes Ziel. Nach GC wollte er ins Ausland. Nach seiner Zeit in Frankreich wollte er nach Italien. Nach dem Cupsieg mit Lazio Rom wollte er Meister werden mit Juventus. Nach den Erfolgen in Turin wollte er sich bei Arsenal in der Premier League, der besten Liga der Welt, beweisen.

Am Ende hält Lichtsteiner keinen Schweizer Rekord allein. Marco Streller hat auch acht Meistertitel gefeiert. Heinz Hermann und Alain Geiger haben mehr Länderspiele absolviert. Valon Behrami hat an mehr WM- und EM-Endrunden teilgenommen. Gelson Fernandes hat ebenfalls in vier der fünf grossen Ligen gespielt. Stéphane Chapuisat und Xherdan Shaqiri haben die Champions League gewonnen – Lichtsteiner stand zweimal bloss im Final. Aber nur Lichtsteiner ist in jeder dieser Kategorien in den Top 3. Und deshalb tritt er jetzt als erfolgreichster Schweizer Fussballer der Geschichte von der Bühne ab.


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