30 Jahre später «Win-Win-Situation» vertan – Russen hadern mit Mauerfall

AP

5.11.2019

Drei Dekaden nach dem Fall der Berliner Mauer sind die Erinnerungen in Russland voller Bitterkeit und Vorwürfe. Die Chance auf eine sicherere Welt wurde vertan, sagen einige – auch Päsident Putin.

Als die Berliner Mauer fiel, hielt die Sowjetunion sich zurück. Schnell akzeptierte die DDR-Besatzungsmacht auch die deutsche Wiedervereinigung. 30 Jahre später ist der Blick zurück nicht ohne scharfe Kritik. So mancher Russe – und auch Präsident Wladimir Putin – wirft der damaligen sowjetischen Führung Naivität im Umgang mit dem Westen vor, die der NATO die Ausdehnung gen Osten ermöglichte.

Moskau habe dem Westen die Hand gereicht, in der Hoffnung auf eine neue Ära der Partnerschaft, sei aber von den westlichen Mächten übers Ohr gehauen worden, lautet die Lesart. Präsident Michail Gorbatschow hatte im Zuge seiner Öffnungspolitik die kommunistischen Regierungen in Osteuropa zu liberalen Reformen ermutigt und sich nicht dagegengestellt, als die Regime unter dem Druck prodemokratischer Kräfte auseinanderbrachen. Wie auch in der DDR.

Nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 stimmte Gorbatschow schnellen Gesprächen zur Wiedervereinigung zu. Damit sei «eine Quelle der Spannung im Zentrum Europas» beseitigt worden, erklärte Gorbatschow kürzlich in einem Interview der russischen Tageszeitung «Iswestija» zum Mauerfall am 9. November. Es habe geholfen, die Beziehungen zu Deutschland massiv zu verbessern.

Ein Bruderkuss zwischen Michael Gorbqatschow und Erich Honecker beim 40. Staatsjubiläum der DDR am 8. Oktober 1989 in Berlin.
Ein Bruderkuss zwischen Michael Gorbqatschow und Erich Honecker beim 40. Staatsjubiläum der DDR am 8. Oktober 1989 in Berlin.
Bild: Keystone

Wie schnell alles ging, überraschte allerdings auch Gorbatschow. Er habe zwar den demokratischen Wandel in Ostdeutschland und in den Ländern des Ostblocks begrüsst, sagte er der «Iswestija». Doch dass die Mauer so rasch fallen würde, damit habe er dann doch nicht gerechnet. «Nicht nur wir, sondern auch unsere westlichen Partner gingen nicht davon aus, dass das Tempo der Geschichte so schnell sein würde», erklärte der ehemalige sowjetiche Präsident.

«Hätte Beginn einer Katastrophe sein können»

Am Morgen nach dem Mauerfall rief Gorbatschow das Politbüro zusammen, um über eine Antwort der Sowjetunion zu beraten. «Das Politbüro entschied einstimmig, dass der Einsatz von Gewalt völlig ausgeschlossen sein müsste», wird er im Interview zitiert. Zwar hätten einige gerne mit Hilfe von Panzern «die Ordnung wiederhergestellt», hätten das aber nicht vorgebracht.

Die Mauer in den Köpfen

«Jede andere Entscheidung hätte äusserst ernste, erhebliche Konsequenzen haben können, hätte der Beginn einert Katastrophe sein können», sagt der damalige Übersetzer Gorbatschows, Pawel Palaschtschenko. Die Sowjetunion hatte mehr als 300'000 Soldaten und mehr als 12'000 gepanzerte Fahrzeuge in Ostdeutschland stationiert.

«Sie hätten praktisch die gesamte Grenze mit ihren Panzern schliessen können, aber sie blieben in ihren Kasernen», erklärt Vladislav Zubok, Experte für Sowjetgeschichte an der London School of Economics. «Der sowjetischen Führung war klar, dass es nicht möglich war, die Paste wieder in die Tube zu drücken. Eine neue Ära begann.»

Revolution ohne Blutvergiessen

Er sei erleichtert gewesen, dass die Sowjetführung nicht versucht habe, gewaltsam die Kontrolle zurückzugewinnen, sagt Nikolai Andrejew, der vor 30 Jahren als Oberst in Deutschland im Einsatz war. «Ich war glücklich, dass alles friedlich verlief, ohne militärischen Konflikt, ohne Schüsse und Blutvergiessen.»

Der Reporter Wjatscheslaw Mostowoi, der für das sowjetische Staatsfernsehen über den Mauerfall berichtete, ergänzt: «Ich war mir sicher, dass unsere Militäreinheiten keine radikalen Massnahmen ergreifen würden. Gorbatschows Politik garantierte das.»

Putin präsentiert neue Atomwaffen

Drei Jahrzehnte später werden Gorbatschow aber von vielen Russen schwere Versäumnisse vorgeworfen. Er habe den Verbündeten Ostdeutschland verraten und die russischen Interessen in Gesprächen mit den Westmächten verwirkt, heisst es. Zu den Kritikern gehört auch der jetzige Präsident Putin.

«Sowjetunion in der Krise»

Der damalige Staatschef habe Versprechungen, dass die NATO sich die Ostblockstaaten nicht einverleiben wolle, blauäugig vertraut, statt sich eine schriftliche Garantie geben zu lassen. «Gorbatschow hat einen Fehler gemacht», resümiert Putin. «In der Politik muss man die Dinge dokumentieren. Und er sprach nur darüber und dachte, damit sei es getan.»

Gorbatschow weist das zurück: Es wäre absurd gewesen, die Westmächte um schriftliche Garantien zu bitten, dass die Mitglieder des Warschauer Paktes nicht der NATO beitreten würden, wird er zitiert. Denn das hätte bedeutet, das östliche Militärbündnis für tot zu erklären, bevor es sich überhaupt auflöste. Das war erst im Juli 1991.

Leben hinter dem Eisernen Vorhang

Während Deutschland den Weg der Wiedervereinigung beschritt, begann die Sowjetunion inmitten von Wirtschaftskrise und politischer Instabilitäten zu zerfallen. Der Kreml konnte kaum seine Rechnungen zahlen, was die Regierung in eine schwache Verhandlungsposition brachte. «Die Sowjetunion war in der Krise und konnte nicht auf Augenhöhe mit dem Westen verhandeln», sagt der Londoner Sowjet-Experte Zubok.

Der Westen als schlechter Gewinner?

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 verschärften sich die wirtschaftlichen Probleme weiter, Russland war auf Finanzspritzen aus dem Westen angewiesen. In den Folgejahren konnte der Kreml der Nato-Erweiterung wenig entgegensetzen. 1999 traten Polen, Ungarn und Tschechien bei. Nach der Jahrtausendwende kamen weitere hinzu, auch die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland, Litauen schlossen sich an.

In Russland wurde das vielfach als Beleg für Aggressivität und Feindseligkeit aufgefasst – bis heute. «Das Misstrauen gegenüber dem Westen, gegenüber den potenziellen Partner auf der anderen Seite, ist immer noch da», sagt Konstantin Kosatschew aus dem Ausschuss für ausländische Angelegenheiten im russischen Oberhaus.

Der Westen habe auf der Suche nach einem schnellen Sieg im Kalten Krieg die Chance verwirkt, eine sicherere Welt zu schaffen. «In gewisser Weise ist dieser Schaden nicht wiedergutzumachen», sagt Kosatschew. «Es hätte eine Win-Win-Situation sein können, aber dafür hätten die westlichen Länder viel klüger, viel grosszügiger sein sollen.»

Zurück zur Startseite