Umstrittener Volksheld Bandera Moskau liess ihn töten, Kiew seinen Geist wieder aufleben

Von Philipp Dahm

3.4.2022

Am 1. Januar 2020 kommen in Kiew Tausende zum 111. Geburtstag von Stepan Bandera zusammen.
Am 1. Januar 2020 kommen in Kiew Tausende zum 111. Geburtstag von Stepan Bandera zusammen.
EPA

Für die einen ist er ein Held der Ukraine, doch Polen und Russen sehen in Stepan Bandera einen Schlächter, der mit den Nazis kooperiert hat. Sein Leben ist so ungewöhnlich wie seine Ermordung.

Von Philipp Dahm

Als der kleine Stepan am Neujahrstag 1909 geboren wird, deutet nichts darauf hin, dass aus dem Buben einmal ein höchst umstrittener Held der Ukraine werden sollte. Wie auch? Als Stepan Bandera in Staryj Uhryniw das Licht der Welt erblickt, gibt es das Land noch gar nicht. Das Dorf im heutigen Westen der Ukraine gehört damals noch zum Königreich Galizien und Lodomerien, das wiederum ein Teil Österreich-Ungarns ist.

Die «Nationalitäten- und Sprachenkarte von Ungarn, Galizien und Bukowina» aus Hickmann´s Geographisch-statistischem Taschen-Atlas von Österreich-Ungarn.
Die «Nationalitäten- und Sprachenkarte von Ungarn, Galizien und Bukowina» aus Hickmann´s Geographisch-statistischem Taschen-Atlas von Österreich-Ungarn.
Gemeinfrei

Nach dem Ersten Weltkrieg scheidet das Gebiet Ende Oktober aus der Doppelmonarchie aus und erklärt sich als Westukrainische Volksrepublik für unabhängig. Der gerade wieder etablierte polnische Staat hat jedoch etwas dagegen: Warschau erklärt das ganze Gebiet zu seinem Besitz – und es kommt zum Krieg mit der Ukraine, den Polen 1919 für sich entscheidet.

Stepans Vater Andrij ist Priester der ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche und auch seine Mutter ist Christin. 1907 bekommen die Eltern zuerst die Tochter Marta, auf Stepan folgen die Geschwister Oleksandr (1911), Wolodomyra (1913), Wassyl (1915), Oksana (1917) und Bohdan (1919). 1922, als Stepan 13 Jahre alt ist, stirbt die Mutter an Tuberkulose.

Bandera 1923 in Pfadi-Uniform
Gemeinfrei

Frühe Radikalisierung

Der Halbwaise geht in Stryi zur Schule und radikalisiert sich offenbar schon als Jugendlicher, als die Regierung eine Politik der Polonisierung in seiner Heimat fährt. Nach seinem Abschluss 1928 will er auf die Universität von Podebrady in der Tschechoslowakei wechseln, doch die Behörden stellen sich quer. Bandera schreibt sich stattdessen an der Politechnika Lwowska ein, wie das Polytechnikum Lwiw damals heisst.

Stepan belegt einen der wenigen Studiengänge, die Ukrainer*innen offen stehen: Pflanzenbauwissenschaft. Auch Gymnasien können Ukrainer und Juden kaum noch besuchen. Als 1929 in Wien die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gegründet wird, die aus Rechten, Nationalisten und Militanten besteht, ist er Feuer und Flamme: An seiner Uni in Lwiw wirbt der Student fortan für die Sache der Gruppierung.

Die OUN nimmt umgehend den bewaffneten Kampf gegen Polen auf, wobei die Gruppe Unterstützung der deutschen Reichswehr bekommt: Das Kaiserreich hatte nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg selbst Gebiete in Ostpreussen und Schlesien abtreten müssen. Die Deutschen in diesen Gebieten hatten selbst gegen Polen gekämpft, schlussendlich aber verloren.

Verurteilung wegen Mordes und Befreiung durch die Nazis

Der Leiter der OUN lässt sich Prowidnyk, also Führer, nennen und kann die Organisation nur aus dem Exil leiten – mal von Berlin, mal von Genf und mal von Italien aus, bevor er 1938 ermordet wird. Bis 1939 töten die OUN und ihr militärischer Arm, die OVU, mindestens 63 Menschen. Warschau reagiert mit Härte – und prägt damit auch Stepan Bandera, der in den 30ern in der OUN-Hierarchie schnell aufsteigt.

Diese Briefmarken wurden in der Ukraine 2009 zum 100. Geburtstag Banderas herausgegeben.
Diese Briefmarken wurden in der Ukraine 2009 zum 100. Geburtstag Banderas herausgegeben.
Gemeinfrei

1934 wird Bandera zum ersten Mal von den polnischen Behörden verhaftet – im Zusammenhang mit der Ermordung des Innenministers Bronislaw Pieracki. Der Prozess in Warschau endet in einem Todesurteil, das jedoch in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wird. Noch im selben Jahr wird er vor dem Gericht in Lwiw wegen seiner OUN-Zugehörigkeit erneut schuldig gesprochen. Ein Befreiungsversuch aus dem Gefängnis von Wronki scheitert 1938.

Ein Jahr später wird der Gefangene dann doch freigelassen – weil Deutschland und die Sowjetunion Polen im September 1939 überfallen. Bandera geht nach Krakau, der Hauptstadt des von den Nazis besetzten Landesteils. Die deutsche Abwehr – der Militärnachrichtendienst – heuert sowohl Bandera als auch den OUN-Führer Andrij Melnyk an. Die beiden zerstreiten sich allerdings 1940 und spalten die Organisation in OUN-M unter dem konservativen Melnyk und die OUN-B unter Bandera.

Ein Antisemit als «Ehrenhäftling» im deutschen KZ

Die OUN-B ist nicht nur radikal, sondern auch antisemitisch – und liegt damit genau auf der Linie der NSDAP, die Mitglieder der OUN für eine Miliz rekrutiert. Als die Nazis 1941 die Sowjetunion überfallen und nach Osten vorrücken, wird die Miliz in Gebieten wie Lwiw zur Ordnungsmacht und beteiligt sich an den Pogromen gegen die jüdischen Bewohner*innen und Massenerschiessungen.

Misshandlung eines Juden in Lwiw im Juni 1941: Zwischen 2'000 und 7'000 jüdischen Bewohnern wurden in der westukrainischen Stadt bei den Pogromen 1941 ermordet.
Misshandlung eines Juden in Lwiw im Juni 1941: Zwischen 2'000 und 7'000 jüdischen Bewohnern wurden in der westukrainischen Stadt bei den Pogromen 1941 ermordet.
Deutsches Bundesarchiv

Die Nazis haben mit der OUN kooperiert, damit diese wiederum Ukrainer in der Sowjetunion aufstachelt. Als aber Bandera-Mitstreiter Jaroslaw Stezko im Juni 1941 in Lwiw eine unabhängige Ukraine ausruft, geraten er und Bandera in Berlins Fadenkreuz und werden im Januar 1942 ins KZ Sachsenhausen gesperrt, wo er allerdings als sogenannter Ehrenhäftling bessere Konditionen geniesst als andere. 

«Wir wollen nicht für Moskau, die Juden, die Deutschen und andere Fremde arbeiten, sondern für uns», zitiert der «Spiegel» aus einem damaligen Flugblatt. «Wir schaffen einen selbstständigen ukrainischen Staat oder gehen für ihn zugrunde.» Auch Banderas Brüder Oleksandr und Wassyl werden verhaftet: Sie landen im KZ Auschwitz und werden dort angeblich von polnischen Mithäftlingen erschlagen.

Das Tor von Schloss Schowkwa in der Westukraine im Juli oder August 1941. Auf den Schildern steht: «Ehre für Hitler! Ehre für Bandera! Lang lebe der unabhängige ukrainische Staat! Lang lebe unser Führer S. Bandera.»
Das Tor von Schloss Schowkwa in der Westukraine im Juli oder August 1941. Auf den Schildern steht: «Ehre für Hitler! Ehre für Bandera! Lang lebe der unabhängige ukrainische Staat! Lang lebe unser Führer S. Bandera.»
Gemeinfrei

Bandera taucht als Stefan Popel in München unter

Im September 1944 entlassen die Nazis den Ukrainer aus der Haft, damit er zurück in die Heimat geht und den Widerstand gegen die vorrückende Rote Armee organisiert. Bandera aber denkt gar nicht daran: Er träumt weiter von einer unabhängigen Ukraine und will jeden bekämpfen, der sich widersetzt. Vornehmlich muss er sich nun aber vor den Sowjets verstecken, die ihn in Abwesenheit als Nazi-Kollaborateur zum Tod verurteilen – und flieht 1946 nach Österreich, um sich dann als Stefan Popel in München niederzulassen.

21. Juli 2013 in Tscherwone: Ukrainer in Uniformen der 14. Waffen-Grenadier-Division der SS spielen eine bedeutende Schlacht gegen die Rote Armee nach, die am 22. Juli 1944 stattgefunden hat. Die galizische SS-Division Nr. 1 wurde aus «Volksdeutschen» und Ukrainern zusammengestellt.
21. Juli 2013 in Tscherwone: Ukrainer in Uniformen der 14. Waffen-Grenadier-Division der SS spielen eine bedeutende Schlacht gegen die Rote Armee nach, die am 22. Juli 1944 stattgefunden hat. Die galizische SS-Division Nr. 1 wurde aus «Volksdeutschen» und Ukrainern zusammengestellt.
Keystone

Seine OUN-B ist nach dem Krieg noch nicht tot: Der britische MI6 und die CIA versuchen, Kontakte zu den Ukrainern aufzubauen, weiss Buchautor Stephen Dorril. 1947 wird Bandera im Exil erneut der Leiter der OUN, doch bald beginnt sich der bayerische Freistaat für seine Vergangenheit zu interessieren.

Der Ukrainer wendet sich deshalb 1956 an den Bundesnachrichtendienst, der ihm Straffreiheit gegen Mitarbeit garantieren soll. Das Ziel der Deutschen ist dabei – nach wie vor – die Destabiliserung der Sowjetunion durch die gezielte Förderung nationalistischer Tendenzen in den Teilrepubliken. Die CIA warnt den BND jedoch vor einer Kooperation, weil Bandera inzwischen von Moskau gesucht wird. 

Tod durch Blausäure-Pistole

Im April 1959 stimmt der BND dann aber doch zu, eine der illegalen Aktionen Banderas zu unterstützen. Ende Juli reist ein vom BND ausgerüstetes und trainiertes Team über die Tschechoslowakei in die Ukraine. Sollten sie einigermassen Erfolg haben, winkt weitere Unterstützung. Die Schlapphüte wissen nicht, dass Moskau die OUN unterwandert hat.

Beim Spiel zwischen Karpaty Lwiw und Schachtar Donezk halten Lwiw-Fans 2010 ein Banner hoch, auf dem «Bandera – unser Held» steht.
Beim Spiel zwischen Karpaty Lwiw und Schachtar Donezk halten Lwiw-Fans 2010 ein Banner hoch, auf dem «Bandera – unser Held» steht.
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Der KGB setzt auf Josef Lehmann aus Ostdeutschland, der in der heutigen Ukraine geboren ist und eigentlich Bogdan Staschinski heisst. Er ist 1954 nach Ost-Berlin gezogen und arbeitet als Kurier für die Russen. Er lernt dort auch den Umgang mit einer Sprühpistole, die Blausäuregas verschiessen kann. 1956 ist seine Ausbildung abgeschlossen. Im Oktober 1957 tötet der Agent den OUN-Politiker und Exil-Ukrainer Lew Rebet in München.

Im April 1959 verlobt Staschinski sich mit der Deutschen Inge Pohl – und weiss zu diesem Zeitpunkt wohl schon von seinem nächsten Ziel: Stepan Bandera. Der Agent mietet sich in einem Hotel in München ein und versucht, in Banderas Wohnung einzubrechen – vergeblich. Als sein Opfer am 15. Oktober 1959 gegen 12.50 Uhr seine Wohnungstür aufschliessen will, spricht ihn Staschinski an und schiesst ihm mit Blausäure-Pistole ins Gesicht.

Attentäter flieht erst nach Moskau und dann in den Westen

Erst wird Bandera ein «tödlicher Sturz» attestiert, doch weil die Waffe zu nah abgefeuert wird, entdecken Ärzte bei der Obduktion das Kaliumcyanid. Die Polizei tappt im Dunkeln. Der Attentäter setzt sich mit Frau Inge nach Moskau ab, die er heiratet und nach und nach einweiht. Doch bald fühlt sich das Paar in der Sowjetunion bedroht, entdeckt Wanzen und flüchtet schliesslich 1961 nach Deutschland, wo der Mann die Tat gesteht.

Staschinski in den 50ern
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Die beiden können nur drei Stunden vor dem Bau der Berliner Mauer ihre KGB-Bewacher abschütteln und in den Westen türmen. 1962 wird Staschinski nur wegen Beihilfe zu einem Tötungsdelikt zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er vier Jahre absitzt. Er bekommt eine neue Identität.

1984 wird berichtet, Staschinski habe sich kosmetischen Operationen unterzogen und arbeite für südafrikanische Geheimdienste. Andere verorten ihn und seine Frau in den USA. Doch während Staschinskis Schicksal heute historisch keine grosse Rolle mehr spielt, ist Banderas Geschichte mehr als kontrovers und sorgt für emotionsgeladene Debatten.

Historische Einordnung

Bandera und seine Bewegung sind ambivalent, weil sie «sowohl rechtsextrem als auch befreiungsnationalistisch» waren, hält die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung fest. Die OUN und der militärische Arm UPA hätten «nicht nur gegen die Rote Armee, sondern vereinzelt auch gegen SS und Wehrmacht» gekämpft.

Einerseits hätten sich «Tausende Mitglieder an Kriegsverbrechen gegen Polen, Juden, andersdenkende Ukrainer, Russen und andere Gruppen sowie sporadischer Zusammenarbeit mit der deutschen Vernichtungsmaschine schuldig» gemacht: «An der Schuld, die sich die ukrainische ‹Befreiungsbewegung› durch Aktionen, wie das UPA-Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung Wolyniens 1943, auflud, besteht kein Zweifel.»

Der ukrainische Holocaust-Überlebende Petro Mishuk trauert im April 2019 bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich der Befreiung des KZ Buchenwald nahe Weimar.
Der ukrainische Holocaust-Überlebende Petro Mishuk trauert im April 2019 bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich der Befreiung des KZ Buchenwald nahe Weimar.
AP

Andererseits sei ihr Kampf auch von «antitotalitären Motiven, noblem Freiheitswillen und hartnäckigem Unabhängigkeitsstreben» geprägt gewesen. «Bestimmte Facetten der Aktivitäten der ukrainischen Aufständischen in den 1940er- und 1950er-Jahren sind trotz des Faschismus ihrer Führung und genozidalen Tendenzen an der Basis als ‹Widerstand› qualifizierbar.» Die Widersprüche sorgten für viele Missverständnisse, heisst es weiter.

Die Zahl der Nazi-Kollaborateure in der OUN-Bewegung sei deutlich kleiner als jene der vier Millionen Ukrainer, die die Achsenmächte bekämpft haben, gibt der Autor zu bedenken. Bis heute habe es keine ultranationalistische Gruppierung geschafft, über die Drei- beziehungsweise Vier-Prozent-Hürde zu springen und ins ukrainische Parlament einzuziehen.

Am stärksten ist die Verehrung der OUN, die eine «Spielart des Faschismus» sei, heute ausgerechnet ganz im Westen der Ukraine: in Galizien, das einst zu Österreich-Ungarn und gar nie zu Russland, aber lange Zeit zur Sowjetunion gehörte.