R-Wert 40 Prozent tieferDie Virus-Sommerpause ist erst mal gut, dann aber auch schlecht
Von Andreas Fischer
25.6.2021
Das Wetter hat einen grösseren Einfluss auf die Verbreitung von Corona, als bislang angenommen. Die derzeitige Entspannung der Infektionslage könnte trügerisch sein.
Von Andreas Fischer
25.06.2021, 14:14
Andreas Fischer
40 Prozent weniger ansteckend als im Winter: Wenn es warm wird, ist Sars-CoV-2 wesentlich zurückhaltender als in den kalten Jahreszeiten. Das zumindest steht in einer neuen Studie, die Forschende um den Physiker Jan Kulveit von der University of Oxford jetzt veröffentlicht haben. Dabei handelt es sich um eine Preprint-Version, die noch nicht von unabhängigen Kollegen überprüft worden ist.
Der Sommer hat der Studie zufolge einen viel grösseren Einfluss auf die Verbreitung des Coronavirus, als bislang angenommen. Zwar waren Wissenschaftler aufgrund der Verwandtschaft des Coronavirus mit dem Influenzavirus davon ausgegangen, dass es jahreszeitliche Schwankungen gebe. Sie wurden bislang aber in mehreren Studien auf unter 20 Prozent beziffert.
Jede Medaille hat zwei Seiten
Dass der Einfluss der Jahreszeiten doppelt so stark ausfallen dürfte, überrascht die Experten. Der deutsche Epidemiologe Karl Lauterbach schrieb auf Twitter: «Ich ging auch von weniger aus.» Das Ergebnis sei eine gute Nachricht, so Lauterbach, weil Lockerungen im Sommer den Impferfolg nicht gefährden würden.
Spannende und überraschende Studie zur Saisonalität der SarsCov2 Übertragung. Könnte bei über 40 % liegen. Bisherige Studien gaben viel geringere Werte. Ich ging auch von weniger aus. Das wäre gute Nachricht. Weil Lockerungen im Sommer den Erfolg der Impfung nicht gefährden würde https://t.co/GExF2PfPPL
Laut Studie sei die Saisonalität der Virusverbreitung nicht von den Temperaturen, dem Luftdruck oder der UV-Strahlung abhängig, sondern von vielen anderen Faktoren. Etwa dem Verhalten der Menschen, die sich mehr im Freien aufhalten und öfter lüften.
Politisch verordnete Beschränkungen wie Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen haben die Forscher aus ihrem Modell herausgerechnet. Trotzdem kommen sie für den Sommer auf eine um 40 Prozent verringerte Reproduktionszahl R. Für den Herbst bedeutet das allerdings auch eine neuerliche Zunahme – und das ist keine gute Nachricht.
One challenge for studying the role of seasonality and environmental factors is the complex web of biological and behavioural interactions, as seen in this "simple" diagram from our preprint: pic.twitter.com/0doOjblUrT
Dass der Bundesrat ab 26. Juni die grosse Öffnung wagt, könnte wegen saisonaler Effekte ohne grosse Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen bleiben. Was aber passiert im Herbst, wenn der R-Wert wieder steigt, zumal im Zusammenhang mit der als ansteckender geltenden Delta-Variante des Virus, die sich auch in der Schweiz weiter ausbreitet?
Das Bundesamt für Gesundheit wollte auf Nachfrage von «blue News» nicht konkret antworten, verwies stattdessen auf die Medienkonferenz mit Bundesrat Alain Berset vom Mittwoch. Der Winter werde sicher noch einmal komplizierter, dämpfte der Gesundheitsminister dabei die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Pandemie. Die Phase der Normalisierung beginne, sobald alle Impfwilligen ihre zweite Dosis erhalten hätten.
Mit Blick auf die kommenden Monate machen Berset zumindest Mutationen derzeit keine grossen Sorgen, «weil bislang keine impf-evasiven Varianten» festgestellt wurden. Die in der Schweiz zugelassenen Impfstoffe würden zudem einen nur leicht reduzierten und immer noch sehr wirksamen Schutz auch gegen die Delta-Mutante gewähren.
Sorglosigkeit ist auch im Sommer nicht angebracht
Später im Jahr, also im Herbst, räumte Berset freilich ein, könnten sich vor allem die Nicht-Geimpften wieder vermehrt infizieren und sogar «für eine neue Welle sorgen». Auch die dann bevorstehende Grippewelle könne die Situation dann verkomplizieren. Beim Influenzavirus lassen sich saisonale Effekte ziemlich gut beobachten: Im Herbst schwillt die Ansteckungswelle an, im Frühjahr ebbt sie wieder ab.
Das könnte auch beim Coronavirus der Fall sein. Wenn sich die Studienergebnisse bestätigen, steigen die Infektionszahlen im Herbst so, wie sie im Sommer gesunken sind. Dass sich die Schweizerinnen und Schweizer allenfalls auf erneute Einschränkungen nach dem Sommer einstellen müssen, ist zumindest nicht ausgeschlossen.
Nicht zuletzt deswegen mahnt Rudolf Hauri, Zuger Kantonsarzt und Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte, Massnahmen wie Händewaschen, Abstandhalten und den Verzicht auf enge Begrüssungsrituale einzuhalten. Sie seien dazu da, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Das Virus sei immer noch aktiv, auch wenn es sich derzeit in einer Art Sommerpause befindet.