Mutige Raketen-PioniereDer erste Jet der Welt war ein Segelflieger
Von Philipp Dahm
11.6.2023
Am 11. Juni 1928 ist die Raketentechnik noch jung, doch Autos brechen mit ihrer Hilfe Rekorde. Nun soll auch ein Flugzeug erstmals auf diesem Weg abheben. Das Wagnis gelingt ausgerechnet mit einem Segelflugzeug.
Von Philipp Dahm
11.06.2023, 19:44
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Am 11. Juni vor 95 Jahren fliegt Fritz Stamer auf der Wasserkuppe als erster Mensch mit einem von Raketen angetriebenen Flugzeug.
Die Technik ist damals brandneu. Zuvor haben Raketen bereits Autos angetrieben, die Geschwindigkeitsrekorde brechen.
Mittendrin ist Fritz von Opel, der als Financier und Entrepreneur, aber auch als Pilot und Rennfahrer Schlagzeilen macht.
Die Akteure und Versuche sind wegweisend für das Raketen-Programm der Nazis, aber auch für die internationale Raumfahrt.
Die Wasserkuppe in Hessen gilt als die «Wiege des Segelflugs»: im Sommer 1920 findet im Rhön-Mittelgebirge im Deutschen Reich der erste Wettbewerb der Gleitflieger statt.
In den folgenden Jahren gehen auf der Wasserkuppe aber nicht nur flugbegeisterte Studenten in die Luft. Auch frühere Militärpiloten frönen dort ihrer Leidenschaft, nachdem es Berlin nach dem Ersten Weltkrieg verboten worden ist, weiterhin Piloten auszubilden oder eine Luftwaffe zu unterhalten.
Ein solcher Veteran ist Fritz Stamer. Der Hannoveraner zieht 1914 im Alter von 17 Jahren in den Krieg, wird in Flandern verletzt und anschliessend zum Feldpiloten ausgebildet. 1917 besteht er die Prüfung. Ein Jahr später wird Stamer mit seiner DFW C.V über Frankreich abgeschossen. 1920 kehrt er aus der Gefangenschaft heim und arbeitet ab 1921 als Fluglehrer auf der Wasserkuppe.
Raketen beflügeln den Traum vom «Weltenraum»
Dort lernt Stamer Alexander Lippisch kennen, der nach dem Krieg als Konstrukteur Erfolge mit schwanzlosen Flugzeugen feiert. Sein Prototyp DFS 39 gilt als Vorläufer des raketengetriebenen Abfangjägers Me 163 aus dem Zweiten Weltkrieg, dessen geistiger Vater Lippisch ist. 1926 heiratet der Ingenieur Käthe Stamers, die Schwester von Fritz. Ihren 1927 geborenen Sohn nennt das Paar tatsächlich Hangwind.
Die Fliegerei steckt auch 1920 immer noch in ihren Kinderschuhen. Der Sieger des damaligen ersten Segelflugwettbewerbs ist gerade mal zwei Minuten und 22 Sekunden in der Luft. Doch die Technik entwickelt sich in den folgenden Jahren rasant – und das gilt nicht nur für die Luftfahrt: 1923 veröffentlicht ein gewisser Hermann Oberth seine Arbeit «Die Rakete zu den Planetenräumen».
Der Südtiroler Max Valier greift die Ideen auf, publiziert ein Jahr später selbst mit Oberths Hilfe ein Buch mit dem Titel «Der Vorstoss in den Weltenraum» und forscht an der neuartigen Raketentechnologie. 1927 gründet er in Breslau den Verein für Raumschifffahrt, doch ihm fehlt das Geld, um seine Projekte umzusetzen.
Doch zu Valiers Glück lernt er Fritz von Opel kennen: Der Enkel von Firmengründer Adam Opel ist Rennfahrer, Entrepreneur und Testleiter bei dem Unternehmen, das Velos, Motorräder, Autos, Lastwagen und Motoren herstellt. Von Opel reizt Valiers Versprechen, das er in seinem Buch macht: Auch an Land könnten Fahr- und Flugzeuge mit Raketen bis zu 800 km/h schnell sein.
Die «Rebellen» und ihre Raketen-Autos
Nach damaligem Forschungsstand sind diese Thesen Humbug, doch von Opel ist «als geborener Rebell bereit gewesen, den wissenschaftlichen Kritikern entgegenzutreten» wie er später selber sagen wird. Beim Opel-Stammsitz in Rüsselsheim wird deshalb ein entsprechendes Versuchslabor aufgebaut.
Mit im Boot ist neben Valier auch der Raketen-Pionier Friedrich Sander. Die Männer produzieren den Opel-Sander-Raketenwagen (RAK), der am 11. April 1928 auf der Hausstrecke eine Geschwindigkeit von 138 km/h erreicht. Die Rekorde fallen nun monatsweise: Der RAK2 schafft auf der Berliner Avus am 23. Mai 238 km/h. Der RAK3, der ohne Pilot, dafür aber auf Schienen fährt, erreicht am 23. Juni 254 km/h.
Was, wenn man diese neuartigen Raketen mit einem Flugzeug verbindet? Fritz von Opel finanziert einen Versuch mit Sanders Raketen. Alexander Lippisch glaubt, das richtige Gerät dafür zu haben: Seine RRG Ente hat ihr Höhenleitwerk vorne und eignet sich deshalb besonders gut für so einen Versuch. Aber: Die Ente ist ein Segelflugzeug.
11. Juni 1928: Fritz Stamer geht in die Geschichte ein
Dennoch wird ein Versuch geplant: Sein Testpilot und Schwager Franz Stamer soll ins Cockpit steigen. Am 10. und 11. Juni 1928 ist es so weit. Der erste Test auf der Wasserkuppe scheitert: Die Ente bleibt am Boden, die Pulverraketen brennen aus. Beim zweiten Versuch wird die Ente erst mit einem Gummiseil in die Höhe katapultiert, bevor Stamer in der Luft nacheinander beide Strahl-Triebwerke zuschaltet.
Die beiden Raketen brennen lediglich 30 Sekunden lang, der Flug dauert nur 80 Sekunden, doch die Ente schwebt 1,5 Kilometer weit. Der erst 30 Jahre alte Veteran und Fluglehrer Franz Stamer aus Hannover ist damit der erste Mensch, der mit einem Raketenantrieb durch die Luft geflogen ist. Es gibt noch einen dritten Versuch, bei dem beide Triebwerke gleichzeitig gezündet werden, doch eines davon explodiert.
Die Ente fängt in etwa 20 Meter Höhe Feuer, doch es gelingt Stamer, den Raketengleiter zu landen. Stamer überlebt und geht in die Geschichte ein, doch der Pilot bleibt danach eher bodenständig. Er übernimmt die Flugschule, die bald auf der Wasserkuppe aufgeht, arbeitet dann administrativ im Segelflug und ist 1950 Mitgründer des Deutschen Aero Clubs. Er stirbt 1969.
Epilog
Während Stamer dem Segelflug treu bleibt, zerstreitet sich Max Valier bald mit Sanders und von Opel. Er baut eigene Raketenwagen, fährt 1929 mit einem Raketen-Schlitten über 400 km/h schnell und forscht auch noch an Flüssig-Treibstoffen.
Er stirbt 1930 bei einer Triebwerksexplosion und gilt als erster Toter der Raumfahrt. Sein Assistent ist damals Walter Riedel, der später mit Wernher von Braun Raketen für die Nazis baut.
Fritz von Opel wagt am 30. September 1929 selbst einen Raketenflug: Mit einem Nachfolger der RRG Ente fliegt auch er 80 Sekunden lang, bevor «Raketen-Fritz» eine Bruchlandung hinlegt, die er unbeschadet übersteht. In jenem Jahr werden wegen der sich anbahnenden Wirtschaftskrise 80 Prozent der Opel-Anteile an General Motors verkauft.
Von Opel zügelt in die Schweiz und weiter in die USA, wo er während des Krieges inhaftiert ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt er an der Côte d'Azur und in St. Moritz. Als er 1971 in Samedan stirbt, widmet die «New York Times» dem «Raketen-Pionier» einen kurzen Nachruf.
Alexander Lippisch legt wie oben beschrieben den Grundstein für die Me 163, doch er überwirft sich 1943 mit seinem Chef und verlässt die Firma Messerschmidt, um in Wien zu forschen. Er wird nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Operation Overcast in die USA gebracht, kehrt in den 60ern aber nach Deutschland zurück, um weiter aerodynamische Forschung zu betrieben. Er stirbt 1977.
Friedrich Sanders treffen die Veränderungen im Deutschen Reich in den 30er-Jahren am härtesten. Er baut eine Raketenfabrik in Bremerhaven auf, doch 1935 schränken die Nazis den kommerziellen Handel mit der Technik ein. Sanders verkauft dennoch an den Verbündeten Italien, wird von der Gestapo verhaftet und 1936 wegen «fahrlässigen Landesverrates» verurteilt. Zwei Jahre später wird er entlassen und darf unter polizeilicher Aufsicht wieder experimentieren. Er stirbt jedoch im selben Jahr in Berlin.