Beunruhigende Studie Beunruhigende Studie: Zunehmende Anzeichen für fatales Insektensterben

AP

24.9.2018

Dass Windschutzscheiben nach längerer Autofahrt voller totes Getier sind, kommt immer seltener vor. Das allein ist zwar noch kein wissenschaftlicher Beweis – doch in der Summe lassen derartige Beobachtungen auf eine Störung des ökologischen Gleichgewichts schliessen.

Ob Bienen, Käfer oder Schmetterlinge – viele Insekten, die einst zum Sommer gehörten wie Eis und Badespass, machen sich allmählich rar. Wie gravierend der Rückgang der Populationen ist, können selbst Experten nur schätzen. Denn aus den vergangenen Jahrzehnten gibt es meist keine exakten Vergleichszahlen. Die globale Tendenz scheint aber klar. Und das dürfte bald auch für die Menschheit zum Problem werden.

Manche Insekten werden vor allem als Schädlinge wahrgenommen. Sie zerstören Ernten oder übertragen Krankheiten. Die kleinen Tierchen bestäuben aber eben auch Pflanzen. Damit sind sie ein unverzichtbarer Teil der natürlichen Umwelt. Bis zu 80 Prozent dessen, wovon sich die Bevölkerung der Erde ernährt, wäre ohne Insekten kaum denkbar.

«Wenn die Insekten verschwinden, kollabiert das gesamte Ökosystem», sagt der Entomologe Doug Tallamy von der Universität des US-Bundesstaates Delaware. «Die Welt würde anfangen zu verwesen.» Der Harvard-Biologe E.O. Wilson warnt, dass an vielen Orten längst kaum noch fliegende Insekten anzutreffen seien. Der 89-Jährige verweist dabei auf den «Windschutzscheibentest». Nach einer mehrstündigen Autofahrt von Boston in den Staat Vermont entdeckte er auf dem vorderen Fenster seines Wagens nach eigenen Angaben nur ein einziges totes Tier.

Ein solcher Test ist natürlich nicht mehr als eine Stichprobe. Um eine fundierte Aussage treffen zu können, müsste eine sehr grosse Zahl von Autos über viele Jahre hinweg überprüft werden. Zudem wäre zu berücksichtigen, dass heutige Fahrzeuge oft aerodynamischer sind als Modelle aus früherer Zeit – und Insekten somit eher daran vorbei gelenkt werden. Allerdings haben inzwischen etliche Wissenschaftler eigene «Windschutzscheibentests» gemacht. Das Ergebnis deckte sich fast immer mit den Erfahrungen Wilsons: Die Wagenfenster blieben weitgehend «sauber».

Vereinzelt gibt es auch genauere Analysen. So ging laut einer Studie die Zahl der Marienkäfer in Kanada und den USA von 1987 bis 2006 um 14 Prozent zurück. Ein Team der University of Nevada beobachtet an der biologischen Forschungsstation La Selva in Costa Rica seit 1991 Insekten. Eine dort unter Schwarzlicht aufgestellte Falle, die vor wenigen Jahrzehnten stets voller toter Tierchen gewesen sei, bleibe nun meist leer, sagt der Forscher Lee Dyer.

Vielfältige Ursachen

Auch in Europa wurden vergleichbare Studien durchgeführt. Für Deutschland ergab eine im vergangenen Jahr vorgestellte Untersuchung seit 1989 einen sommerlichen Insektenrückgang um 82 Prozent. Hierfür waren an 63 Standorten kontinuierlich Daten gesammelt worden. Auf internationaler Ebene sind solch konkrete Zahlen die Ausnahme. «Wir wissen nicht, wie viel wir verlieren, wenn wir nicht wissen, wie viel wir haben», sagt die Insektenforscherin Helen Spafford von der University of Hawaii.

Wegen des Fehlens älterer Daten sei «unsicher, in welchem Masse wir eine 'Anthropocalypse' erleben», sagt May Berenbaum von der University of Illinois. Einzelne Studien seien für sich genommen wenig aussagekräftig. Aber die schlichte Masse an klaren Hinweisen lasse sehr wohl darauf schliessen, dass es ein Problem gebe. «Es ist definitiv nicht nur eine deutsche Sache», betont David Wagner von der University of Connecticut – er hat den Rückgang der Mottenpopulationen im Nordosten der USA untersucht.

Die Ursachen sind nach bisherigen Erkenntnissen vielfältig: Verlust der natürlichen Lebensräume, monokulturelle Landwirtschaft, der verbreitete Einsatz von Insektengift zur Schädlingsbekämpfung, invasive Arten, der allgemeine Rückgang der Pflanzenvielfalt, Lichtverschmutzung, Strassenverkehr und nicht zuletzt der Klimawandel.

Auch in Grönland weniger Fliegen

Pflanzen, die vom Menschen als Unkraut betrachtet und deswegen vernichtet würden, seien für viele Insekten unverzichtbar, sagt Tallamy von der University of Delaware. Gepflegte Rasenflächen hingegen seien «im Grunde tote Zonen». Künstliche Lichtquellen seien in vielen Regionen ein noch grösseres Problem. Die Helligkeit ziehe die Tierchen an, sagt der Experte. Das mache sie nicht nur zu einer leichten Beute. Die Insekten würden darüber hinaus auch Energie verschwenden, die sie eigentlich zur eigenen Nahrungssuche bräuchten.

Viele der Ursachen sind also eine Folge der zunehmenden Bebauung und Bewirtschaftung der Erdoberfläche. Doch auch weitab von menschlichen Siedlungsgebieten nimmt die Zahl der Insekten rapide ab. Der Ökologe Toke Thomas Høye von der dänischen Universität Aarhus untersuchte die Verbreitung von Fliegen in Grönland, 500 Kilometer entfernt von jeglicher Zivilisation. Und er stellte auch hier einen starken Rückgang fest – seit 1996 um 80 Prozent. In einer Studie führt Høye dies unter anderem auf den Anstieg der Temperaturen zurück.

Der Insektenforscher Wagner aus Connecticut merkt die Veränderung auch bei sommerlichen Jugendcamps. Für die Schüler werde es dort immer schwieriger, verschiedene Tierchen zu entdecken, sagt er. Die junge Generation, die er heute unterrichte, werde die geringe Zahl von Insekten daher schon bald als normal betrachten. «Ihnen ist gar nicht bewusst, dass sich da eine ökologische Katastrophe am Horizont auftun könnte.»

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