GerichtsprozessWirecard-Prozess dreht sich um abwesenden Marsalek
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19.7.2023 - 17:36
Im Münchner Wirecard-Prozess wird ein Abwesender zur Hauptfigur: Der seit drei Jahren untergetauchte Vertriebschef Jan Marsalek hat mit einem Brief an das Gericht Streit zwischen der Verteidigung des ehemaligen Geschäftsführers Markus Braun und Richtern ausgelöst.
Keystone-SDA, tv
19.07.2023, 17:36
SDA
Brauns Anwalt Alfred Dierlamm sieht in dem Brief einen massgeblichen Beleg für die Unglaubwürdigkeit des Kronzeugen der Staatsanwaltschaft. Dierlamm forderte die Kammer daher am Mittwoch auf, den Brief in die Hauptverhandlung einzuführen. «Wollen Sie den Brief in der Schublade verschwinden lassen», fragte der Verteidiger in Richtung Richterbank.
Über das von Marsaleks Verteidiger aufgesetzte Schreiben hatte zuerst die «Wirtschaftswoche» berichtet. Dem Vernehmen nach widerspricht der Anwalt darin einerseits Aussagen des Kronzeugen Oliver Bellenhaus und andererseits der Einschätzung des Insolvenzverwalters, dass ein Grossteil der Wirecard-Geschäfte erfunden gewesen sei. Das würde die Verteidigung Brauns stützen.
CEO gibt sich ahnungslos
Laut Anklage bildeten der seit Sommer 2020 in Untersuchungshaft sitzende CEO und seine Komplizen eine kriminelle Betrügerbande. Sie sollen Banken und Investoren nicht vorhandene Geschäfte vorgegaukelt haben, um mit Hilfe von Krediten in Milliardenhöhe ihr defizitäres Unternehmen über Wasser zu halten.
Die Münchner Staatsanwaltschaft beziffert den Schaden für die Kreditgeber auf über drei Milliarden Euro, das wäre der grösste Betrugsschaden in Deutschland seit 1945. Die Anklage stützt sich ganz wesentlich auf die Aussage des Kronzeugen Bellenhaus, ehedem Leiter der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai.
Braun und seinen Verteidigern zufolge war das «Tatbild» ein ganz anderes: Demnach waren die Wirecard-Geschäfte echt, Drahtzieher Marsalek und seine Mittäter sollen jedoch den Konzern ausgenommen und an die zwei Milliarden Euro auf eigene Konten umgelenkt haben.
Ein ebenso ahnungsloser wie unschuldiger Ex-Firmenchef Braun wäre demnach selbst getäuscht worden und weder Täter noch Mitwisser gewesen. Brauns Verteidiger haben den Kronzeugen Bellenhaus mehrfach der Lüge beschuldigt.
Anklage und Insolvenzverwalter widersprechen
Diese Argumentation steht im Widerspruch nicht nur zur Anklage, sondern auch zur Einschätzung des Insolvenzverwalters Michael Jaffé: Der hatte kürzlich in einem neuen Sachstandsbericht bekräftigt, keine Spur der vermissten Milliarden gefunden zu haben. Sollte das Gericht am Ende Dierlamms Argumenten folgen, würde das sowohl für die Münchner Staatsanwaltschaft als auch den Insolvenzverwalter einen grossen Rufschaden bedeuten.
Der Prozess läuft seit Anfang Dezember, der Mittwoch war der 53. Prozesstag. Bisher haben jedoch nur Zeugen ausgesagt, die von den Ermittlern nicht zur Wirecard-Bande gezählt werden, und nach Auffassung Dierlamms dementsprechend auch kein Insiderwissen zum grössten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte haben.
Marsalek soll seine Geschäfte sogar vor der übrigen Geschäftsleitung abgeschottet haben, wie die frühere Produktchefin Susanne Steidl als Zeugin erläuterte. «Ich habe keine Passwörter gehabt», sagte die 52 Jahre alte Managerin. Wie Braun und Marsalek stammt auch sie aus Österreich.
Geschäftsleitungskollegen getäuscht?
Marsalek verantwortete als Vertriebschef das Geschäft mit sogenannten Drittpartnerfirmen. Externe Zahlungsdienstleister wickelten im Wirecard-Auftrag – echte oder erfundene – Kreditkartenzahlungen überwiegend in Asien ab.
Im Sommer 2020 war der einstige Dax-Konzern zusammengebrochen, weil 1,9 Milliarden Euro angeblicher Erlöse aus diesem Drittpartnergeschäft nicht auffindbar waren. Marsalek floh ins Ausland und wird in Russland vermutet, Braun stellte sich der Justiz.
Marsaleks Drittpartnergeschäft war nach Steidls Worten auch für sie als Mitglied der Konzernspitze unzugänglich, die Transaktionen auf externen Computersystemen abgespeichert: «Auf den Wirecard-Servern war das nicht», sagte sie. «Ich hatte keine Vorstellung, wo das war.»
Motiv für Brief weiterhin unklar
Steidl hatte eigenen Worten zufolge keine Ahnung, dass es bei dem Konzern kriminell zuging: «In meiner Wahrnehmung war Wirecard erfolgreich.» Zweifel hatte sie jedoch sowohl an Braun als auch an Marsalek: Steidl war in den Monaten vor dem Zusammenbruch des Konzerns der Meinung, dass beide «weg müssten», bestätigte sie eine Frage des Richters.
Ungeklärt blieb am Mittwoch auch ein weiteres von vielen Wirecard-Rätseln: Welches Motiv Marsalek dazu getrieben haben könnte, sich per Anwaltsbrief bei Gericht zu melden.
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