Vergeblicher Kampf um Mutterliebe «Verlogenes Miststück»: Meinhof-Tochter rechnet mit ihrer Mutter ab

Wilfried Mommert, dpa

26.6.2018

Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl wurde 1968 in Berlin eingeschult und hat hautnahe Kindheitserinnerungen an die «68er» und an die 70er Jahre mit der rebellierenden Studentenbewegung und der RAF. Jetzt hat Röhl ihre erschütternden Erinnerungen veröffentlicht.

Für Bettina Röhl war der Sprung Ulrike Meinhofs aus dem Fenster bei der gewaltsamen Gefangenenbefreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970 in Berlin-Dahlem «der erste Akt eines lang hinziehenden Selbstmordes» ihrer Mutter. Sie habe «Revolution, Staatsumsturz und Chaos» haben wollen und sich «für Mord und Betrug und Selbstbetrug» entschieden.

Dabei habe sie ihre Kinder nicht «verlassen», wie immer «so schön traurig» gesagt werde. «Sie hat ihre Kinder mit in ihren Abgrund reissen wollen» und noch aus der Haft an sie geschrieben: «Die RAF hat euch lieb. Kenn ich mich ja wohl am besten aus.»

Röhl hat ein schmerzhaftes Buch über eine Mutter-Tochter-Beziehung geschrieben, die in eine turbulente gesellschaftspolitische Zeit der jungen Bundesrepublik fiel. Ein Kind kämpft um die Liebe seiner Mutter, die nach den Worten ihrer Tochter zeitweise auch ein «verlogenes Miststück» gewesen sei.

Röhl erinnert an die Opfer der RAF, Tote und Verletzte, Polizisten, Familienväter, US-Soldaten und Verlagsmitarbeiter, die der seinerzeit weitverbreiteten «Hätschelung von Terroristen» durch manche Intellektuelle entgegenstünden. Sie erinnert an eine «erschütternd perfekt funktionierende Vernetzung» Meinhofs, die mit dem «konkret»-Verleger Klaus Rainer Röhl zeitweise verheiratet war, «in die deutschen Leitmedien» und in grosse Teile der «linken Society» hinein.

Der Zorn auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Sympathisanten oder gar Unterstützer von Terroristen in auch «gehobenen» gesellschaftlichen Kreisen («Die RAF war nicht peinlich, die RAF war sexy») weitet Röhl auf nahezu die gesamte 68er Bewegung aus, an der sie fast kein gutes Haar lässt, auch wenn sie einige Erfolge durchaus anerkennt. Da werden auch grosse Namen wie Claus Peymann oder Elfriede Jelinek (inzwischen Nobelpreisträgerin) zu «Protestprofiteuren» oder ein Daniel Cohn-Bendit zum «Protestlord, Studienabbrecher, Studententribun».

Einblicke in Meinhofs Familie und die RAF

Röhls Zorn wird vielleicht auch verständlich vor dem Hintergrund eines persönlichen Schicksals, wozu auch der quälende, hier allerdings auch allzu ausführlich dokumentierte Sorgerechtsstreit um die Zwillingsschwestern mit dem Vater Röhl und die Vernachlässigung durch die Mutter gehört.

Interessanter und bewegender als Röhls gesellschaftspolitische oder auch psychologische Analysen oder Deutungsversuche der 68er, an denen sie sich manchmal verhebt, sind die privaten und internen Einblicke in Röhls beziehungsweise Meinhofs Familie und in die RAF, die von vielen Mitgliedern laut Röhl auch als «Ersatzfamilie» angesehen wurde.

Lesenswert sind auch Röhls Erinnerungen an die ersten Kinderläden und Wohngemeinschaften in Berlin, wo nach dem Mauerbau von 1961 viele grosse Altbauwohnungen leer standen. «Wir gingen in die Schule und in den Kinderladen und die Erwachsenen kümmerten sich bald nicht mehr um uns.» Für die «Grossen» war West-Berlin eine riesige Kneipe gewesen, mit Savignyplatz, Café Steinplatz und Kreuzberg, wo auch Dutschke und Baader auftauchten.

Kinder wurden in Barackenlager gebracht

Aufschlussreich und auch bewegend sind Röhls Schilderungen über die Zeit nach dem Abtauchen der Mutter in den Untergrund, als die Zwillingsschwestern von Freunden beziehungsweise Gesinnungsgenossen in ein primitives Barackenlager nach Sizilien gebracht wurden. Sie sollten dem Zugriff des Vaters und der Behörden entzogen werden.

In dem Barackenlager lebten die Kinder laut Röhl unter unsäglichen Bedingungen, konnten dann aber wenigstens zwischenzeitlich auch an den Strand, bevor sie unter anderem von dem noch jungen Publizisten und «konkret»-Autor Stefan Aust wieder zu ihrem Vater gebracht wurden. Ausführlich dokumentiert die Tochter auch den späteren Kampf ihrer Mutter und der Anwälte über Erleichterungen der Haftbedingungen der schliesslich gefassten und verhafteten RAF-Mitglieder in den 70er Jahren.

Es ist das Verdienst dieses im Grunde bitteren Buches, mit bisher unveröffentlichten Briefen, Anwaltsakten und Interviews vieler damals Beteiligter und Zeitzeugen (wie Horst Mahler), «eine noch nie dagewesene Nahaufnahme von Ulrike Meinhof in den Jahren 1968 bis 1974» zu liefern, wie der Verlag nicht ganz zu Unrecht betont.

Mit Selbstmord beginnt «neues Kapitel»

«Die bis heute unveröffentlichte Korrespondenz in den Akten, die ich von den Anwälten bekam, ermöglichte mir einen ganz neuen Blick auf meine Mutter. Hier sprachen plötzlich nicht mehr Journalisten mit irgendeinem Halbwissen über meine Mutter, sondern hier sprach zumeist sie selbst. Auf Hunderten von Seiten lernte ich meine Mutter, wie sie 1968/69 bis 1974 gedacht, gefühlt und geschrieben hat, erst richtig kennen und verstehen.»

Die Publizistin und Buchautorin Bettina Röhl («So macht Kommunismus Spass») hat auch die Geschichte einer ungewöhnlichen Kindheit, die auch ein kleines Stück Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik ist, aufgeschrieben. Am 9. Mai 1976 begeht Ulrike Meinhof in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim Selbstmord. «Hier möchte ich vorerst aussteigen aus der Geschichte», schreibt Röhl am Ende des Buches.

«Es beginnt ein neues Kapitel.» Am Ende steht ein persönlicher Dank der Meinhof-Tochter an jene, «die meine Schwester und mich teilweise unter Lebensgefahr vor einem ungewissen und möglicherweise tödlichen Schicksal in Palästina oder sonst wo bewahrt haben: bei Peter Homann, Stefan Aust und Hanna K., bei Rudolf Augstein und bei meinem Vater Klaus Rainer Röhl.»

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