Heidi Warum unsere Nationalheldin eigentlich Japanerin ist

Von David Eugster

19.7.2019

Johanna Spyris Heidi prägt das Bild der Schweiz – doch das Bild, das sich die Welt von Heidi macht, stammt aus Japan: Die erfolgreichste Version der Figur steht am Anfang des internationalen Erfolgs der Anime-Filme.

Ihre Schöpferin Johanna Spyri war sich dessen wohl kaum bewusst, doch die Geschichte von Heidi aus dem Jahr 1880 ist wie gemacht für Schweizer Tourismuswerbung: Eine wilde kleine Analphabetin, die mit Ziegen spricht, lockt eine mondsüchtige deutsche Rollstuhlfahrerin in die Alpen, wo diese durch Luft, Sonne und vor allem Milch gesundet und am Schluss munter den Berg hinunterspaziert.

Wo lebte Heidi wirklich?

Heidi ist, neben Wilhelm Tell, eine der grossen helvetischen Heiligenfiguren, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Gelebt hat sie aber nie. Das stiftet auch Verwirrung, wie sich an den diversen Hütten zeigt, in denen Heidi gelebt haben soll: in St. Moritz, Maienfeld und in Bad Ragaz. Alle werden Touristen als das ursprüngliche Heim von Heidi angepriesen.

Zwei Standorte können sich immerhin darauf berufen, dass die Autorin in der Nähe von Bad Ragaz in Kur war und dabei nach Maienfeld gesehen habe. Die Hütte in St. Moritz diente in den späten 1970er-Jahren als Kulisse in einem Heidi-Film. Sowieso behauptet ein Hobby-Historiker vehement, Johanna Spyri habe ohnehin den Hirzel nahe Zürich im Kopf gehabt, als sie Heidi schrieb, und nicht irgendein fernes Alpdorf.

Dabei ist die Antwort einfach: Heidi kommt aus Japan. Wenn heute jemand, irgendwo auf der Welt, an Heidi denkt, dann denkt er oder sie meist an die Anime-Version aus der japanischen Zeichentrickserie «Heidi, das Mädchen aus den Alpen». Darin durchleben Haiji, Arumu onji, Pētā und Kurara Zēzeman, wie die Helden des Buches auf Japanisch heissen, dieselben Abenteuer wie in Spyris Original.

Wie kam es dazu, dass japanische Filmemacher einen Schweizer Klassiker zu weltweiter Popularität verhalfen?

Spyris Roman wurde in über 50 Sprachen übersetzt. Aber kaum eine hatte derart langen Nachhall wie jene in Japan. Dabei wurde das Buch erst 1920 übersetzt, verhältnismässig spät. Doch die Geschichte war ein willkommenes Gegenmittel zu den kriegerischen Wirren und die Modernisierung, die Japan mit sich rissen. Heidi malte das Bild der Schweiz als eine Insel des Friedens abseits aller Probleme der Welt und wurde dadurch äusserst populär.

Am Anfang eines Booms

In den 1960er-Jahren suchte die japanische Trickfilm-Industrie Auswege aus ihrer damaligen finanziellen Misere und versuchte in den europäischen Markt vorzustossen. Das geschah einerseits durch preiswerte Angebote, andererseits suchte man nach Geschichten, die ein japanisches wie ein internationales Publikum ansprachen. Darum begann man, europäische Kinderliteratur zu verfilmen. Neben Serien wie «Wickie der Wikinger» oder «Biene Maja» wurde «Heidi» der stärkste Marktöffner.

In Europa herrschten starke Vorurteile gegen Comics und Trickfilme: Sie seien schädlich für die Entwicklung der Kinder. Doch dem konnte Heidi, eine Heldin rein wie die Alpenluft, entgegentreten. Die Serie feierte bald auch über Europa hinaus internationalen Erfolg: Sie wurde in zwanzig Sprachen übersetzt und in noch mehr Ländern ausgestrahlt. Mit ihr startete der Boom von japanischer Kinderunterhaltung in Form von Anime-Filmen. Und der Erfolg von «Heidi» legte den finanziellen Grundstock für das heute berühmte Studio Ghibli, das mit Grossmeister Hayao Miyazaki regelmässig Anime-Kassenschlager für das Kino liefert.

So herzig – Kawaii Switzerland

Auch in Japan selbst hatte Heidi grossen Erfolg. Das Alpenmädchen mit den glühenden Wangen und den weit geöffneten Augen passte besonders gut zum Kawaii-Lifestyle, der in den 1980er-Jahren unter japanischen Frauen aufkam. «Kawaii» bedeutet «herzig, süss, hübsch» und steht im Kontrast zu einer als hart und kalt wahrgenommenen Erwachsenenwelt.

Das so benannte Lebensgefühl äusserte sich in einer Passion für niedliche Accessoires und einem kindlichen Stil. «Hello Kitty» wurde ebenfalls im Jahr der Erstausstrahlung von «Heidi» erfunden und stand der Entwicklung des Stils ebenfalls Pate.

Die Serie «Heidi» prägte gerade dadurch, dass sie das Bedürfnis nach Niedlichkeit befriedigte, eine ganze Generation von japanischen Konsumentinnen. Und auch Touristinnen: Denn was ist mehr kawaii als die Schweiz? Kawaii steht auch für eine dauernde Entzückung für das Kleine und Unschuldige. Die japanische Serie «Heidi» erneuert die Projektionen auf die Schweiz bis heute: In ihr erscheint das Land als Streichelzoo mit weissen Geisslein, in der alle dauernd über satte grüne Wiesen rennen.

Was die Kassen bis heute klingeln lässt: Auf der Suche nach der reinen, süssen Alpenwelt kommen auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Hunderttausende Japaner in die Schweiz. In Maienfeld können sie dann im Original-Heidi-Haus Souvenirs kaufen, auf die eine Heidi aufgedruckt ist – original gezeichnet in Tokio.


Heidi im Landesmuseum

Das Landesmuseum in Zürich widmet dem Phänomen «Heidi» und ihrer Verbindung nach Japan eine eigene Ausstellung. «Heidi in Japan» ist noch bis zum 13. Oktober 2019 zu sehen.

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