Massnahmen-Ende So realistisch ist ein Schweizer «Freedom Day»

Von Lia Pescatore

26.1.2022

Ist die Schweiz schon bald über dem Berg? Eine Allianz aus Wirtschaft und Politik will die Massnahmen möglichst schnell aufheben. 
Ist die Schweiz schon bald über dem Berg? Eine Allianz aus Wirtschaft und Politik will die Massnahmen möglichst schnell aufheben. 
Keystone/Christian Beutler

Stimmen aus der Wirtschaft und Politik fordern den Bundesrat dazu auf, möglichst bald alle Massnahmen aufzuheben – den «Freedom Day» auszurufen. Epidemiologen halten dies jedoch für verfrüht. 

Von Lia Pescatore

26.1.2022

Alle Massnahmen aufheben. Auf einen Schlag. Schon mehrere Länder haben diesen drastischen Schritt im vergangenen Jahr gewagt und sind Monate später wieder zu gewissen Einschränkungen zurückgekehrt. 

Doch ist mit der Omikron-Welle nicht alles anders? In Grossbritannien hat Boris Johnson für Donnerstag den sogenannten «Freedom Day» verkündet. Auch in der Schweiz soll dieser Tag nicht mehr lange auf sich warten lassen, fordert eine Allianz aus Wirtschaftsverbänden sowie Vertretern von bürgerlichen Parteien einen Tag vor der Bundesratssitzung.

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«Die Menschen sollten sich weiterhin boostern lassen, Abstand halten und Hände waschen», doch die restlichen Massnahmen müssen fallen, am liebsten bereits am 2. Februar, sagte SVP-Nationalrat Thomas Matter am Dienstag, als er zusammen mit Politiker*innen der Mitte und FDP sowie Verbandsvertreter*innen des Gewerbes, der Fitness- und Gesundheitscenter sowie der Gastronomie vor die Medien trat. Einschränkungen wie  die Quarantäne- und Isolationsregelungen und die Zertifikats- und Maskentragepflicht seien gesellschaftlich sowie wirtschaftlich nicht vertretbar, so die Meinung der Allianz. 



Eichenberger: «Das Covid-Zertifikat hat seinen Nutzen verloren»

Für eine baldige Öffnung spricht sich auch Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger aus. Massnahmen wie das Covid-Zertifikat würden ihren Nutzen verlieren. Zum einen sei die Bedrohung durch die Erkrankung kleiner geworden, und zum anderen habe sich gezeigt, dass sich auch viele Geimpfte und sogar Genesene infizieren und das Virus weitergeben würden, sagt er zu blue News.

Schon im März 2020 hat er eine kontrollierte Durchseuchung befürwortet, davon ist er auch heute nicht abgewichen. Es brauche die natürliche Durchseuchung, um eine nachhaltige Immunität in der Bevölkerung zu garantieren, sagt Eichenberger. Dies könne die Impfung alleine nicht liefern, da ihre Schutzwirkung schon nach kurzer Zeit nachliesse und sich darum nun auch geimpfte Personen infizierten.

«Freedom Day» könnte einen «Schuss in den eigenen Fuss» bedeuten

Bei Epidemiologinnen und Epidemiologen erhält der Plan der schlagartigen Lockerungen wenig Rückhalt. Es sei noch zu früh für Euphorie, sagte Patrick Mathys an der allwöchentlichen Medienkonferenz des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Eine frühzeitige Lockerung könne «einen Schuss in den eigenen Fuss» bedeuten, auch für die Wirtschaft, betonte Urs Karrer, Vizepräsident der wissenschaftlichen Taskforce und Infektiologe.

BAG-Experte Mathys warnt vor Aufhebung der Massnahmen

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Auch  Jürg Utzinger, Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts stellt sich hinter die Einschätzung der Experten von BAG und Taskforce. Er verstehe die steigende Ungeduld in Teilen der Bevölkerung, doch die Forderung nach einem baldigen «Freedom Day»  habe die falsche Signalwirkung. «In der Schweiz beobachten wir zurzeit das höchste je gemessene Infektionsgeschehen», sagt er, dieses bringe Hospitalisationen und Long-Covid-Fälle mit sich, «die nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch das soziale Gefüge belasten». Darum dürfe man nichts überstürzen. Die Öffnungen sollten mit der gebotenen Vorsicht, Schritt für Schritt und Daten- und Evidenz-basiert vollzogen werden.

Wenn sich die Lage entspannt – und das könnte bereits in ein paar Tagen der Fall sein – dann seien weitere Lockerungsschritte angezeigt, zum Beispiel die Umstellung einer Homeoffice-Pflicht auf eine Homeoffice-Empfehlung, sowie die weitere Kürzung oder die schrittweise Aufhebung der Quarantäneregelung. «Nicht angezeigt ist die Aufhebung der Isolationspflicht», sagt Utzinger. Auch an der Zertifikatspflicht empfiehlt er noch etwas länger festzuhalten, da sie ein wichtiges zusätzliches Instrument ist, die Omikron-Wellen zu verlangsamen.

Die einen fordern Lockerungen, die anderen neue Massnahmen

Weitere Massnahmen besonders zum Schutz der Kinder, deren Impfquote im Vergleich noch sehr tief ist, fordern hingegen Vertreter verschiedener Zivilorganisationen. Auf Primar- und Sekundarstufe sollen weitere schweizweite Massnahmen in Absprache mit den Kantonen erfolgen, fordern die Organisationen in einer gemeinsamen Mitteilung, darunter «Kinder schützen – jetzt!». Fredy Neeser, Gründungsmitglied der Organisation, kritisiert, die Befürworter der Aufhebung der Massnahmen machten sich die Pandemiemüdigkeit in der Bevölkerung zunutze. Auch der Bund tendiere dazu, aufzugeben.

Viele Familien hätten sich über zwei Jahre mit allen Mitteln geschützt, beispielsweise weil sie vulnerable Angehörige haben, «jetzt haben sie praktisch keine Möglichkeit mehr, dem Virus auszuweichen».

Aufhebung der Präsenzpflicht an Schulen gefordert

Neeser sieht die explodierenden Fallzahlen und auch die Entwicklungen im Ausland darum mit Sorge. In Grossbritannien würden die Hospitalisierungen von Kindern seit Omikron steil anstiegen, in Dänemark verbreitet sich ein neuer Subtyp der Omikron-Variante rasant. «Da läuten bei mir alle Alarmglocken», sagt Neeser.

Statt der Aufhebung anderer Schutzmassnahmen fordert er die Aufhebung der Pflicht für Kinder, am Präsenzunterricht teilzunehmen. «Die Präsenzpflicht kommt einer Infektionspflicht gleich», so Neeser. Sie solle deshalb mit einer vorübergehenden, pandemiebedingten Dispensationsmöglichkeit ausgesetzt werden.

«Der Zugang zur Bildung und die soziale Interaktion unter Kindern ist zentral», betont Jürg Utzinger. Insbesondere Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, die ohnehin schon stärker von der Pandemie belastet sind, würden darunter leiden. Trotz des grossen Infektionsgeschehens in den jüngsten Altersgruppen kommen Schulschliessungen darum für Utzinger nicht infrage. Die Schutzkonzepte hätten sich bewährt.

Utzinger: Gewisse Massnahmen werden bleiben

In die Zukunft schaut er vorsichtig optimistisch: Er geht davon aus, dass die Omikron-Welle so schnell verschwinde, wie sie gekommen sei. Dies zeigten Entwicklungen in Südafrika und England. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass es danach zu weiteren Wellen mit einem solchen Ausmass kommt, wie wir es jetzt gesehen haben», sagt Utzinger. Ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung sei nun recht gut geschützt.

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«Zuletzt dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir mit der Covid-Pandemie ein globales Problem haben, das wir nur global lösen können.» Es sei zentral, das Infektionsgeschehen und die Situation in den Spitälern gut im Auge zu behalten, um schnell reagieren zu können, sollten die Zahlen im Herbst wieder ansteigen.

Gewisse Massnahmen, wie das Tragen der Masken, Abstandhalten und Hygieneregeln werden seiner Meinung nach den Alltag wohl noch für längere Zeit prägen. «Es ergibt durchaus Sinn, dass man freiwillig im Zug eine Maske trägt, wenn man erkältet ist, als eigenverantwortliche Ansteckungsprävention», sagt Utzinger. 

Eichenberger: «Nicht gleich von Big Bang zur Big Party»

Auch Wirtschaftswissenschaftler Eichenberger betont, dass es vor der Öffnung eine Verhaltensänderung in der Bevölkerung brauche. «Wir sollten nicht gleich vom Big Bang zur Big Party wechseln», sagt er. Der Bundesrat habe bisher die Vermittlung einfacher aber effektiver Massnahmen wie freiwilliges regelmässiges Händewaschen und Maskentragen in gewissen Situationen, aber insbesondere das vernünftige Verhalten im Falle einer Erkrankung vernachlässigt. Für die weitere Lockerung der Massnahmen sei es nun Bedingung, dass die Bevölkerung sehr schnell den Umgang mit dem Virus im Alltag ohne Einschränkungen erlerne, sagt er.

Erste Indizien, dass die Bevölkerung ihr Verhalten bereits freiwillig anpasst, gibt es laut der wissenschaftlichen Taskforce: So habe sich die Gesamtmobilität in der Bevölkerung im Vergleich zum vergangenen Monat deutlich verringert. 

Doch reicht dies dem Bundesrat aus, um alle Massnahmen aufzuheben? Dies erscheint eher unwahrscheinlich. Erst letzte Woche hat der Bundesrat die Massnahmen um mindestens einen Monat verlängert. Die nächste grössere Auslegeordnung und die Diskussion möglicher weiterer Lockerungen hat er für den 2. Februar angekündigt.