Bildungsexperten sind alarmiertWerden Buben an Gymnasien benachteiligt?
tchs
22.12.2023
Neue Daten weisen darauf hin, dass Buben an Gymnasien benachteiligt werden. Bildungsexperten nennen mögliche Gründe für die Schulabbrüche und fordern Anpassungen im Sinne der männlichen Jugendlichen.
tchs
22.12.2023, 00:00
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
In der Fachzeitschrift «Gymnasium Helveticum» erschien ein Artikel, der die Diskriminierung männlicher Gymnasiasten nahelegt.
In zahlreichen Kantonen ist der Trend ablesbar, dass Buben eher vom Gymnasium abgehen als Mädchen.
Ein Grund könnte sein, dass Mädchen eher dem erfolgreichen Gymnasial-Typ entsprechen.
Bildungsinstitutionen und Kantone haben das Problem auf dem Schirm.
Gibt es ein Diskriminierungs-Problem von Buben an Schweizer Gymnasien? Darauf weisen zumindest die Zahlen, die Lucius Hartmann, Präsident des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrer und Gymnasiallehrerinnen (VSG), kürzlich publiziert hat, hin. Sein Artikel erschien in der Fachzeitschrift «Gymnasium Helveticum» und liefert Befunde, welche eine systematische Benachteiligung männlicher Schüler auf dem Weg zur Hochschulbildung nahelegen.
Ein Beispiel: Von 2019 bis 2023 besuchten im Kanton St. Gallen mehr Buben als Mädchen das Untergymnasium, die kantonale Statistik beziffert ihren Anteil auf 52,4 Prozent. Allerdings durften mehrheitlich Mädchen im Jahr 2022 ihr Maturitätszeugnis entgegennehmen. Lediglich 39,3 Prozent der Maturanden waren Buben. Repräsentativ ist der Kanton St. Gallen mit lediglich zwei Untergymnasiumklassen nicht. Allerdings zeichnet sich der gleiche Trend, wonach überdurchschnittlich viele Buben es nicht zur Matura schaffen, auch in anderen Kantonen ab.
Trend in zahlreichen Kantonen nachweisbar
«Ich hatte Hinweise darauf, dass Buben öfter aus dem Gymnasium ausscheiden als Mädchen», so Lucius Hartmann gegenüber der NZZ. Aus diesem Grund sammelte er Zahlen aus verschiedenen Kantonen sowie jene des Bundesamts für Statistik. Dabei wird deutlich, dass über die Kantone hinweg der Anteil der Jungen zum Zeitpunkt des Eintritts ins Gymnasium höher als in den oberen Klassen oder bei der Matura ist. Lediglich im Kanton Freiburg liessen sich die Daten nicht so eindeutig interpretieren.
Die Tendenz lautet demnach, dass Buben zunehmend vom Gymnasium abgehen, während bei den Mädchen ein gegenteiliger Trend auszumachen ist: Ihr Anteil steigt stetig von der ersten bis zur sechsten Gymnasialklasse.
Aus Gleichstellungssicht positiv: Auf Bildungsebene haben Mädchen und Frauen über die letzten Jahrzehnte hinweg stark aufgeholt, mittlerweile sind mehr Frauen als Männer an Universitäten eingeschrieben. Dennoch zeigt sich Margrit Stamm, Doyenne der Bildungsforschung in der Schweiz, gegenüber der NZZ überrascht von der scheinbar kontinuierlichen Abnahme der Buben während der Gymnasialzeit.
Warum sind Mädchen an Gymnasien erfolgreicher?
Die emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Uni Freiburg teilte Hartmanns Artikel online. Ihrer Meinung nach sei es ein problematischer Befund, dass Jungen heute mehr Probleme hätten, die Matura zu bestehen. Den Gründen müsse man nachgehen.
Hartmann, der selbst Mathematik, Latein und Griechisch an einer Zürcher Kantonsschule unterrichtet, hat verschiedene Erklärungsansätze. So sei es beispielsweise möglich, dass die Alternativen für Gymnasiasten attraktiver als für Gymnasiastinnen seien. Auch in seinen Klassen hat er die Erfahrung gemacht, dass Schüler sich bewusst entscheiden, die Schule abzubrechen und stattdessen eine Lehre zu beginnen.
Eine andere Erklärung des Lehrers: Mädchen tendieren eher zu dem Typ, der an Gymnasien gut abschneidet. Im entscheidenden Alter sind sie im Schnitt reifer und weisen eine höhere Sozialkompetenz auf. Im Unterricht beteiligen sie sich mehr, ihre Prüfungsvorbereitung ist effektiver. Ein Grossteil hat die Pubertät bereits überstanden, während männliche Mitschüler mit Hormonschüben umgehen müssen. Es ginge laut Hartmann nicht um kognitive Unterschiede. «Aber die Buben können ihre Fähigkeiten in diesem Alter weniger gut abrufen.» Bei überfachlichen Kompetenzen, wie etwa der Kommunikation, seien Mädchen ebenfalls im Vorteil.
Laut Erziehungswissenschaftlerin Stamm gebe es zudem Resultate aus der angloamerikanischen Forschung, wonach es pubertierenden Buben intellektuell möglich wäre, gute Noten zu schreiben, selbige aber dennoch ausblieben. Sie führt als möglichen Grund an, dass man als «Streber» tituliert unter Jungen wahrscheinlicher zum Aussenseiter würde. Ein hohes Ansehen in der Peer-Group würden Buben eher über sportliche Leistungen erreichen, Mädchen eher durch gute Noten.
Bildungsinstitutionen wissen um die Problematik
Ihre Vermutung sei, «dass das Gymnasium eher den Mädchen entspricht, die anpassungsfreudiger sind». Stamm erklärte, sie wisse aus Gesprächen mit Bildungsinstitutionen sowie den Verantwortlichen in den Kantonen, dass das Thema bereits auf dem Tisch sei. Nun gilt es, die Bedürfnisse der Buben zu berücksichtigen.
Aktuell wird in den Kantonen an der Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität gearbeitet, 2029 soll die Umsetzungsphase abgeschlossen sein. Nach Ansicht des VSG-Präsidenten Hartmann besteht noch genug Zeit, das Gymnasium für männliche Schüler wieder attraktiver zu gestalten. Der Unterricht müsse so gestaltet werden, dass Geschlechtsunterschiede weniger stark ins Gewicht fallen. So sei auch die im Maturitätsreglement geforderte «Chancengerechtigkeit» mehr gewährleistet.