Geringe BeteiligungIst die Gemeindeversammlung ein Auslaufmodell?
Valerie Zasklawski
22.1.2019
Gemeindeversammlungen sind unter Druck. Die Versuche, sie abzuschaffen und mit Parlamenten zu ersetzen, häufen sich. Doch die Urform der direkten Demokratie hat in der Bevölkerung nach wie vor grossen Rückhalt.
Sie sind weltbekannt, die Landsgemeinden in den Kantonen Appenzell-Innerrhoden und Glarus. Dort spricht die Regierung auf dem Dorfplatz die Sachgeschäfte mit den Stimmberechtigten ab. Aber nicht nur in den zwei Kleinkantonen entscheiden die Stimmbürger direkt per Handheben über ihre Anliegen: Auch in vier von fünf Schweizer Gemeinden finden mehrmals jährlich Gemeindeversammlungen statt. Die Mehrzweckhalle ist der Ort, wo Meinungen gekippt werden und neue Einsichten entstehen.
Doch in der jüngeren Vergangenheit wurden in der Schweiz indes mehrfach Versuche unternommen, die als «Urform der direkten Demokratie» bezeichnete Organisation abzuschaffen und durch ein klassisches Parlament zu ersetzen. Meistens erfolglos, denn die Bevölkerung will in vielen Fällen lieber an der Gemeindeversammlungen festhalten.
Solothurner Stimmbürger gefragt
So scheiterte im vergangenen Jahr in der Baselbieter Gemeinde Muttenz (gut 17'000 Einwohner) bereits der fünfte Anlauf, die Gemeindeversammlungen abzuschaffen. Auch Rapperswil-Jona im Kanton St. Gallen lehnte nach seiner Fusion die Einführung eines Parlaments 2015 ab – und ist heute mit seinen 28’000 Einwohnern die grösste Gemeinde der Schweiz mit einer Gemeindeversammlung.
Im Kanton Zürich hingegen stimmte die Bevölkerung von Wetzikon 2012 der Einführung eines Ortsparlaments zu. Und am kommenden 10. Februar müssen auch die Stimmberechtigten der 17’000 Einwohner starken Stadt Solothurn über die Zukunft ihrer Gemeindeorganisation entscheiden. Gefordert wird dort von Mitte-Links ein 30-köpfiges Parlament und die Einführung von fünf Stadträten, wovon einer weiterhin vollamtlich als Stadtpräsident amtieren soll. Dieses Amt hat seit 1993 der FDP-Nationalrat Kurt Fluri inne; die laufende Legislatur ist seine letzte.
Fluri lehnt die Einführung eines Stadtparlaments ab, wie er auf Anfrage sagt: «Insbesondere das direktdemokratische Element spricht für die Gemeindeversammlung.» Mit ihrer Abschaffung ginge ein Demokratieverlust einher. Wichtig ist laut Fluri, dass die von der Versammlung getroffenen Beschlüsse referendumsfähig sind. Auch müsse sichergestellt sein, dass wichtige Entscheide unabhängig von der Gemeindeorganisation an die Urne kämen.
Zweifel an der Legitimität
Das grosse Problem ist die Repräsentation der Stimmberechtigten. Sie ist an den hierzulande jährlich rund 4’000 durchgeführten Gemeindeversammlungen gering – und wird immer geringer. Während sich in kleineren Gemeinden rund 20 Prozent beteiligen, sind es in den grösseren Gemeinden nur wenige Prozentpunkte. In Volketswil im Zürcher Glattal betrug die Beteiligung an der letzten Versammlung am 7. Dezember 2018 desolate 0,88 Prozent.
Insgesamt werden die Gemeindeversammlungen noch von 300'000 Personen besucht. Die Menschen sind heute in ihren Dörfern nicht mehr so verwurzelt wie früher und interessieren sich weniger für lokale Politik. Besonders untervertreten sind Junge und Neuzugezogene. Ausserdem werden Personen, die am Abend arbeiten oder Kinder betreuen müssen, systematisch ausgeschlossen.
Politologe Andreas Ladner, der zum Thema ein Buch geschrieben hat, äussert darin die Ansicht, dass «die tiefen und rückläufigen Besucherzahlen an der Legitimität der von den Gemeindeversammlungen gefällten Entscheidungen Zweifel aufkommen lassen». Eine wissenschaftliche Präferenz für das Versammlungs- oder das Parlamentssystem zu begründen, sei dennoch schwierig. Prinzipiell gilt: Je grösser ein Ort, desto eher wird die Gemeindeversammlung abgeschafft. In der Literatur findet sich die magische Grenze von 10’000 Einwohnern.
Klare Grenzen in der Romandie
Einen Trend in Richtung Gemeindeparlamente wagt Ladner aber zumindest für die Deutschschweiz nicht auszumachen, auch wenn es durch das Bevölkerungswachstum und die zunehmenden Gemeindefusionen immer häufiger grössere Gemeinden gibt. In der lateinischen Schweiz hingegen ist das Modell weit verbreitet; in den Kantonen Genf und Neuenburg sind Parlamente ab 1’000 Einwohnern sogar vorgeschrieben.
Fluri schätzt die Unterrepräsentation aus demokratiepolitischer Sicht nicht weiter problematisch ein. Er sagt: «Alle Stimmbürger sind eingeladen, an den Gemeindeversammlungen teilzunehmen.» Der Stapi räumt gleichzeitig aber ein, dass es in Solothurn gar keinen Raum gäbe, in dem alle 11’000 Stimmberechtigten Platz fänden.
Argumentation entlang der Parteigrenzen
Die Argumentationslinie sowohl der Gegner als auch der Befürworter von Gemeindeversammlungen verläuft entlang der Parteigrenzen. So betonen nicht nur die Vertreter der FDP, sondern auch jene der SVP gerne den identitätsstiftenden Charakter von Gemeindeversammlungen und setzen sich für deren Erhalt ein. Für SVP-Nationalrat Andreas Glarner, der bis 2017 der Aargauer Gemeinde Oberwil-Lieli vorstand, ist klar: «Das Treffen vor Ort ist wertvoll.»
FDP und SVP argumentieren zudem mit den hohen Kosten, die durch die Einführung von Parlamenten anfallen würden. Glarner: «Ein Parlament ist nicht nur unflexibel, es ist auch teuer.» Im Falle der Stadt Solothurn würde es sich um rund 700’000 Franken im Jahr handeln.
Für die SP ist das Geld hingegen kein Argument. Die St. Galler Nationalrätin Claudia Friedl erinnert sich: 40 Franken Sitzungsgeld habe sie damals als Gemeindeparlamentarierin erhalten (heute sind es 100). Sie ist der Meinung, dass sich eine Gemeinde ab einer gewissen Grösse ein Parlament leisten sollte.
Der Linken, aber auch den Mitte-Parteien geht es vor allem darum, die Macht des Gemeindepräsidenten und der Verwaltung zu begrenzen. Denn diese ist, so sind sich Experten einig, in ordentlichen Gemeindeorganisationen gross. Friedl sagt: «Ein Parlament kann dem Gemeindepräsidenten oder einer Gemeindepräsidentin besser entgegentreten als eine Gemeindeversammlung.» Das ungleiche Machtverhältnis sei problematisch, unabhängig von der Person, welche das Amt des Gemeindepräsidenten innehabe.
Zum Beispiel Oberwil-Lieli
Die Macht wird von Gemeindepräsidenten dann auch unterschiedlich ausgeübt. Während Fluri als Solothurner Stadtpräsident (bisher) kaum für Aufregung sorgte, zog Glarner als Gemeindeammann von Oberwil-Lieli durch den von ihm inspirierten Freikauf von Flüchtlingen viel Kritik auf sich. Die «Aargauer Zeitung» kommentierte damals, die geplante Willkür in Oberwil-Lieli hätte die Grenzen der direkten Demokratie aufgezeigt, aber auch klargemacht, welch wundersame Einrichtung die Gemeindeversammlung trotz aller Unzulänglichkeiten sein könne: Die Mehrzweckhalle sei demnach auch ein Ort, wo «ein bisschen Anarchie und Ungehorsam» lauere. Ein Ort, wo «die kleine Welt des Dorfes kurzfristig aus den Fugen geraten» könne. Und wo keiner wisse, wann es wieder passiere.
Vielleicht entscheiden die Stimmbürger in Solothurn am 10. Februar auch deshalb geordnet an der Urne über die Zukunft ihrer Gemeindeversammlung. Spannend wird die Abstimmung ohnehin. Befürworter und Gegner halten sich ziemlich genau die Waage.
Korrigendum: In einer früheren Version dieser Meldung hiess es, dass Pratteln unlängst die Einführung eines Gemeindeparlaments abgelehnt habe. Dies stimmt nicht; Pratteln hat breits vor etlichen Jahren die Gemeindeversammlung abgeschafft und mit dem Einwohnerrat ein Parlament geschaffen. «Bluewin.ch» entschuldigt sich für diesen Fehler.
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