Konfliktforscher«Wann immer die Russen verzweifelt werden, eskalieren sie die Gewalt»
Von Gil Bieler
12.4.2022
Bericht über angeblichen Giftgasangriff in Mariupol
Im Osten hat die Ukraine ihre stärksten und erfahrensten Truppen stationiert. Aus der fast zerstörten Stadt Mariupol meldet das ukrainische Asow-Regiment einen angeblichen Chemiewaffen-Angriff der Russen.
12.04.2022
Russland könnte ganze Städte zerstören und arbeitet bereits daran, mögliche Chemiewaffen-Angriffe den Ukrainern anzulasten: Der Politologe und Konfliktforscher Sergjy Kudelia über die kommende Kriegsphase.
Von Gil Bieler
12.04.2022, 12:38
12.04.2022, 15:47
Gil Bieler
Herr Kudelia, auf russischer Seite übernimmt General Alexander Dwornikow in einem entscheidenden Moment das Kommando. Was erwarten Sie für die nächsten Wochen?
Wir wissen, dass General Dwornikow bereits die russischen Truppen in Syrien befehligt hat. Das schürt bei vielen die Sorge, dass jetzt im Donbass dieselben brutalen Mittel gegen die Zivilbevölkerung angewendet werden wie damals in Syrien. Aus taktischer Sicht macht seine Ernennung durchaus Sinn, denn das nächste Ziel der Russen ist es, die vollständige Kontrolle über die Region Donezk zu erringen. Die Kämpfe werden also in einer urbanen Region stattfinden, und der neue Kommandeur hat Erfahrung im Städtekampf. Das war sicherlich einer der Gründe, weshalb er ernannt wurde. Zugleich hat Dwornikow den Ruf, ganze Städte zu zerstören – das droht jetzt auch im Donbass.
In Syrien kamen brutale Luftschläge und Fassbomben zum Einsatz. Wäre das auch im Donbass denkbar?
Zur Person
Der Ukrainer Sergjy Kudlei ist Professor für Politikwissenschaft an der Baylor University im US-Bundesstaat Texas und zurzeit Gastprofessor und Mitglied des Projekts «Ukrainian Research in Switzerland» an der Universität Basel tätig. Zu seinen Forschungsgebieten zählen politische Konflikte, Bürgerkriege sowie der Konflikt in der Ostukraine.
Ich befürchte es zumindest. Die Stadt Mariupol wurde ja zu 80 Prozent zerstört. Es ist denkbar, dass sich dieses Vorgehen jetzt in viel grösserem Massstab im Donbass wiederholen könnte. Man darf auch nicht vergessen: Der nächste Stichtag, an dem die Russen einen Erfolg vorweisen wollen, ist der 9. Mai, der in Russland als «Tag des Sieges» und Feiertag gilt. Präsident Wladimir Putin muss dann seinem Heimpublikum einen Erfolg vorweisen können, vor allem den politischen und militärischen Eliten, bevor diese das Vertrauen in ihn verlieren. Darum versuchen die Russen, die Offensive jetzt zu beschleunigen und einen wesentlichen Erfolg in den nächsten zwei bis drei Wochen zu erzwingen, den sie dann propagandistisch ausschlachten können.
Ist der 9. Mai ein realistisches Datum?
Das wird nicht möglich sein – ausser, die Russen setzen wirklich chemische Waffen ein. Es gab am Montag Berichte über einen ersten solchen Angriff in Mariupol, was aber zur Stunde noch nicht bestätigt ist. Sollten die Russen wirklich zu solchen Massnahmen greifen, wäre es aber eine andere Geschichte.
Könnte Putin wirklich chemische Waffen einsetzen?
Da halte ich nicht für ausgeschlossen. Wann immer es in der vergangenen Woche Attacken auf Zivilisten gab, hat die russische Propaganda die ukrainischen Truppen dafür verantwortlich gemacht. Beim Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk mit über 50 Toten war dies zum Beispiel der Fall. Sie machen das sehr konsequent. Ich befürchte daher, die Russen könnten chemische Waffen einsetzen und dann die Ukraine beschuldigen. Sie versuchen so, Verwirrung über die Angreifer zu stiften, und sind darin sehr erfolgreich. Hinzu kommt: Wann immer die Russen verzweifelt werden, eskalieren sie die Gewalt. Der neue Kommandeur dürfte unter grossem Druck stehen, in den nächsten Wochen Resultate zu liefern.
Wie kann sich die ukrainische Seite gegen solche Methoden wappnen?
Zum einen, indem man versucht, die Zivilbevölkerung aus der Gefahrenzone zu bringen. Das ist in den letzten Wochen geschehen – wobei wir sehen, dass die Russen diese Flucht zu verhindern versuchen. Kommen wir nochmals auf den Raketenangriff auf Kramatorsk zu sprechen: Dieser hat grosse Angst ausgelöst, dass auch andere Bahnhöfe, über die die Menschen fliehen wollen, zum Ziel von Angriffen werden könnten. Evakuierung ist also die einzige Möglichkeit, die der Ukraine bleibt.
Und die andere?
All die Städte im Donbass werden massiv aufgerüstet. Die ukrainischen Truppen versuchen ausserdem, sich in Industrieanlagen einzuquartieren, um diese besser verteidigen zu können. Das haben wir zum Beispiel in Mariupol gesehen. Jede Stadt wird zu einer Festung aufgerüstet, und es wird für die russischen Fahrzeuge sehr schwierig werden, voranzukommen, weil sie einfache Ziele für die ukrainischen Truppen sein werden. Das wird ein langer Kampf und nicht so schnell vorüber sein, wie es sich die Russen erhoffen. Wir sprechen hier eher von Monaten statt von Wochen. Man sieht das an Mariupol: Die Gefechte dauern seit sechs Wochen an, trotzdem haben die Russen noch nicht die vollständige Kontrolle über die Stadt errungen.
Der Krieg in der Ukraine in Bildern
10. April: Friedhof-Angestellte versuchen in einem Massengrab in Bucha getötete Menschen zu identifizieren.
Bild: Bild: Keystone/AP Photo/Rodrigo Abd
10. April: Irpin ist wieder unter ukrainischer Kontrolle. Nach Kiew müssen die Menschen weiterhin über eine Notbrücke. Der Fluss ist weiterhin nur über eine Behelfsbrücke passierbar.
Bild: Bild: Keystone/EPA/Andrii Nesterenko
10. April: Protestaktion in Barcelona. Menschen spielen getötete Zivilisten im Krieg in der Ukraine.
Bild: Bild: Keystone/EPA/Alberto Estevez
9. April: Trümmer einer russischen Rakete in Makariw, einem Vorort Kiews.
Bild: Bild: Keystone/AP Photo/Efrem Lukatsky
9. April: Verwandte eines getöteten ukrainischen Soldaten trauern an dessen Beerdigung in Lwiw.
Bild: Bild: Keystone/EPA/Mykola Tys
9. April: Eine Frau schaut sich Familienfotos an, die sie in den Trümmern ihres bombardierten Hauses in Tschernihiw gefunden hat.
Bild: Bild: Keystone/EPA/Sergey Dolzehnko
Der Krieg in der Ukraine in Bildern
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Bild: Bild: Keystone/AP Photo/Rodrigo Abd
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Bild: Bild: Keystone/AP Photo/Efrem Lukatsky
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Bild: Bild: Keystone/EPA/Mykola Tys
9. April: Eine Frau schaut sich Familienfotos an, die sie in den Trümmern ihres bombardierten Hauses in Tschernihiw gefunden hat.