Bundesratsentscheid «Schlag ins Gesicht» oder «Vorsichtig, aber korrekt»?

Lukas Meyer

19.3.2021

Restaurants dürfen ihre Terrasse noch nicht öffnen, hat der Bundesrat entschieden.
Restaurants dürfen ihre Terrasse noch nicht öffnen, hat der Bundesrat entschieden.
Bild: Keystone/Salvatore Di Nolfi

Um vier Wochen Geduld bittet Alain Berset die Bevölkerung. Das steht man durch, glaubt die Linke. Die Geduld sei langsam am Ende, sagt dagegen Damian Müller von der FDP. Und die SVP tobt.

Lukas Meyer

Letzten Freitag hatte der Bundesrat einige Lockerungen – etwa die Öffnung von Restaurantterrassen – den Kantonen zur Konsultation vorgeschlagen. Nun hat er sich wegen der «instabilen Lage» weitgehend dagegen entschieden. Falls sich die Lage weiter verschlechtern sollte, hat er sogar Richtwerte definiert, ab denen eine Verschärfung diskutiert würde. Die Reaktionen in der Politik fallen unterschiedlich aus.

«Vorsichtig, aber korrekt»

Grünen-Nationalrätin Franziska Ryser findet: «Der Entscheid ist vorsichtig, aber korrekt.» Es sei richtig, dass man nicht zu schnell öffne, sondern die weitere Entwicklung der Lage abwarte. Dass private Treffen wieder mit bis zu zehn Personen möglich sind, begrüsst sie: «Es ist ein wichtiges Zeichen, dass man im Privaten eine kleine Lockerung macht, wenn man parallel dazu die Testmöglichkeiten vergrössert. So kann man als Familie auch wieder mal eine andere Familie treffen.»

Die Bevölkerung werde die von Berset geforderte Geduld aufbringen: «Wir sind in einer Krise. Für viele ist die Situation sehr anstrengend. Aber jetzt haben wir es schon ein Jahr ausgehalten, da werden wir weitere vier Wochen durchstehen, auch wenn es niemandem Freude macht. Ich gehe davon aus, dass dieser Entscheid akzeptiert wird.»

Balthasar Glättli, Nationalrat und Präsident der Grünen, bedankte sich auf Twitter beim Bundesrat für die Vorsicht: 

Gestärkter Bundesrat

SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen hat den Entscheid so erwartet und hofft auf die Geduld der Bevölkerung: «Die Leute wissen, dass der Bundesrat zu jedem Zeitpunkt versucht hat, Mass zu halten und nur die notwendigen Massnahmen ergriffen hat. Die Akzeptanz ist nach wie vor hoch, und diesen Monat braucht es jetzt einfach noch.»

Die soeben zu Ende gegangene Session habe den Bundesrat gestärkt. «Das Parlament hätte die Gelegenheit gehabt zu bestimmen, was gilt, und Verantwortung zu übernehmen. Das hat es nicht gemacht – nach dem Theater wurde klar, dass niemand ernsthaft den Bundesrat übersteuern will.»

So könne Alain Berset auch alleine auftreten: «Ich bin überzeugt, dass der Bundesrat an einem Strick zieht. Herr Berset braucht keine Schützenhilfe. Hingegen war es nach den vergangenen Angriffen auf seine Person wichtig, dass auch Ueli Maurer und Guy Parmelin sich hinstellten und sagten, dass der Bundesrat ein Gremium ist, das im Konsens funktioniert und gemeinsame Entscheidungen trifft.»

Auch GLP-Präsident Jürg Grossen attestiert dem Bundesrat «Standhaftigkeit und Verantwortung».

«Wenig glaubwürdig»

Der Bündner Mitte-Nationalrat Martin Candinas begrüsst, dass immerhin die 5-Personen-Regel gelockert wird und Familien nicht mehr so stark eingeschränkt werden. Er findet aber auch: «Die Idee einer schrittweisen Öffnung ist wenig glaubwürdig, wenn nur ein solch kleiner Schritt vollzogen wird.»

Masslos enttäuscht ist er, dass Restaurant-Terrassen zu bleiben sollen: «Ich kann irgendwie verstehen, dass der Bundesrat nicht den Mut hat, die Restaurants ganz zu öffnen, obwohl dies unter den geltenden Schutzkonzepten problemlos möglich wäre. Aber dass der Bundesrat nicht einmal den Mut hat, zumindest die Terrassen zu öffnen, ist für mich absolut nicht nachvollziehbar. Dies nicht zuletzt auch nachdem alle Kantone sich dafür ausgesprochen haben.»

In Graubünden habe man die Terrassen in den Skigebieten stets im Griff gehabt. Diese hätten sogar für eine gute Verteilung der Leute gesorgt. Dass der Bundesrat so beratungsresistent in dieser Frage sei und die gemachten Erfahrungen aus Graubünden – anders als beim Testen – nicht berücksichtige, «hat für mich einfach keine Logik».

Härtefallgelder schnell auszahlen

FDP-Ständerat Damian Müller glaubt, dass die Geduld langsam am Ende ist. «Viele Leute sind massiv eingeschränkt und können nicht arbeiten gehen. Die sehen das Licht am Ende des Tunnels nicht. Da geht es um Existenzen.» Die Kantone müssten die Härtefälle zügig bearbeiten und standardisierte Umsetzungen durchführen, damit das Geld am Schluss des Tages dort ankommt, wo es wirklich gebraucht wird.

Er versteht nicht, warum Gastrobetriebe trotz der ausgeklügelten Schutzkonzepte nicht öffnen dürfen. Hier müsse der Bundesrat aufzeigen, wo die Probleme liegen: «Man muss den Leuten plausibel darlegen, was funktioniert und was nicht, damit sie Planungssicherheit haben. Es braucht ein mehrstufiges Ampelsystem.»

Auch Versäumnisse in der Impfstrategie rächten sich jetzt: «Der Bundesrat müsste ehrlich sein und sagen, dass die Umsetzung viel länger Zeit braucht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie bis im Sommer alle geimpft sein sollen, notabene müssten nun täglich über 60'000 Personen geimpft werden.»

Unzufriedenheit bei SVP und Kantonen

Gar nicht zufrieden ist die SVP: «Dieses Öffnungsschrittchen ist ein Schlag ins Gesicht von Bevölkerung und Betrieben», heisst es in einer Medienmitteilung. Es sei inakzeptabel, dass der Bundesrat die Kantone übergehe und Betriebe und Bevölkerung «schikaniert». «Die Menschen in unserem Land müssen endlich wieder möglichst frei leben und arbeiten können.»

Auch die Kantone hätten sich mehr Öffnungen gewünscht, wie die Konferenz der Gesundheitsdirektoren (GDK) in einer Mitteilung schreibt. GDK-Präsident Lukas Engelberger sagt: «Wir bedauern, dass der Bundesrat nun deutlich vorsichtiger öffnet als von vielen Kantonen gefordert. Letztlich ist es aber auch die Landesregierung, die in der gegenwärtigen Situation mit landesweit einheitlichen Massnahmen die Verantwortung trägt.»

Das zögerliche Vorgehen des Bundesrates verschärfe die Situation im Gastgewerbe weiter, heisst es in einer Mitteilung von Gastrosuisse. Der Bundesrat «treibt eine ganze Branche in den Abgrund», schreibt der Verband auf Twitter.

Economiesuisse kann den Entscheid des Bundesrates nachvollziehen, hätte sich aber weitere vorsichtige Öffnungsschritte gewünscht. Vor allem eine Lockerung der Homeoffice-Pflicht und die Öffnung von Terrassen hätte man begrüsst, schreibt der Wirtschaftsdachverband in einer Mitteilung.

Für «perspektivlos und katastrophal für Wirtschaft und Gesellschaft» hält der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) den Entscheid. «Für den SGV ist inakzeptabel, dass sich der Bundesrat wiederum nur von den durch die Taskforce vorgezeichneten Horrorszenarien beeinflussen lässt», heisst es in einer Mitteilung. Auch Praxisvertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft sollten dort mitdiskutieren können. Ausserdem fordert der SGV die vollständige Öffnung von Restaurants und Fitnessstudios wie auch die Aufhebung der Homeoffice-Pflicht.