Geleaktes Dokument So ungehindert konnten chinesische Agenten in der Schweiz operieren

tsha

10.12.2020

Die Schweizerflagge und die chinesische Flagge am Rheinhafen in Basel (Archivbild): Vor wenigen Tagen lief ein Abkommen aus, das es chinesischen Agenten ermöglichte, auf Schweizer Boden zu operieren.
Die Schweizerflagge und die chinesische Flagge am Rheinhafen in Basel (Archivbild): Vor wenigen Tagen lief ein Abkommen aus, das es chinesischen Agenten ermöglichte, auf Schweizer Boden zu operieren.
Bild: Keystone

Im August erfuhr die Öffentlichkeit erstmals von einem geheimen Abkommen, das chinesischen Agenten erlaubt, unkontrolliert in der Schweiz gegen eigene Landsleute vorzugehen. Nun wurde das brisante Dokument geleakt.

Bis vor ein paar Monaten brauchte es schon sehr viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass ein Land wie die Schweiz einen derartigen Deal eingehen würde: Wie die «NZZ am Sonntag» im August erstmals öffentlich machte, schlossen Bern und Peking vor fünf Jahren ein Abkommen, das es chinesischen Agenten erlaubte, sich frei und ohne Aufsicht in der Schweiz aufzuhalten – auf Kosten der Steuerzahler.

Ihr Ziel: chinesische Staatsbürger zu identifizieren, die illegal in der Schweiz leben. Die Menschenrechtsgruppe «Safeguard Defenders» hat das hochumstrittene Abkommen nun erstmals veröffentlicht. Es gibt Einblicke in eine äusserst ungewöhnliche Praxis.

Geschlossen wurde das Abkommen im Dezember 2015 in Peking zwischen dem Staatssekretariat für Migration SEM und dem chinesischen Ministerium für öffentliche Sicherheit. Die Schweiz werde «chinesische Experten einladen, um der Schweizer Seite dabei zu helfen, vermeintliche chinesische Staatsbürger, die sich regelwidrig in der Schweizer aufhalten, zu identifizieren», heisst es zu Beginn des Abkommens.



An sich sind derartige Kooperationsabkommen zwischen zwei Staaten nichts Ungewöhnliches. Sie sollen helfen, Menschen, die sich illegal in einem Land aufhalten, als Bürger eines anderen Staates zu identifizieren – mit dem Ziel, diese Menschen in ihre Heimat zurückzuführen. Das Abkommen mit China aber, so die Menschenrechtler von «Safeguard Defenders», «hat wenig mit diesen normalen ‹Rückführungsabkommen› zu tun». 

Dramatische Menschenrechtslage

Ein Blick in das Abkommen (PDF) zeigt, warum es derart umstritten ist. So kann Peking zwei selbst gewählte «Experten» in die Schweiz entsenden, ohne dass es der Zustimmung Berns bedarf. Die Schweiz muss lediglich eine «Einladung» aussprechen, hat auf die von Peking ausgesuchten Mitarbeiter aber keinen Einfluss. Ausserdem kommen die chinesischen «Experten» ohne offiziellen Status ins Land.

Zwei Wochen dürfen sie sich dem Abkommen zufolge auf Schweizer Boden aufhalten und dabei täglich sechs vermeintlich chinesische Staatsbürger befragen. Die Unkosten für die Missionen trägt der Schweizer Staat, der die chinesischen Agenten aber nicht überwachen darf.

Nach fünf Jahren Laufzeit ist das Abkommen Anfang der Woche ausgelaufen. Bereits im August war allerdings bekannt geworden, dass Bern an einer Verlängerung interessiert ist. Und auch wenn das Abkommen laut SEM erst einmal angewendet wurde – 2016 wurden 13 Personen ausgeschafft, unter ihnen vier abgewiesene Asylbewerber – ist die Sorge unter Menschenrechtlern gross, dass in China verfolgte Gruppen in der Schweiz nicht den nötigen Schutz geniessen könnten.



Zumal sich die Menschenrechtslage in China zuletzt dramatisch verschlechtert hat: In Hongkong geht Peking massiv gegen die Demokratiebewegung vor, in der nordwestlichen Provinz Xinjiang sollen sich eine Million Menschen aus der ethnischen Gruppe der Uiguren in sogenannten «Umerziehungslagern» befinden. Auch in Tibet, so Menschenrechtler, soll es bereits ähnliche Einrichtungen geben.

Welches Interesse hat China?

Der Schutz dieser Menschen ist im Abkommen zwischen Bern und Peking nicht festgeschrieben. Dass das SEM im August erklärte, Tibeter oder Uiguren würden nicht nach China zurückgeführt, halten Aktivisten aus Hongkong für eine Schutzbehauptung.

Dem britischen «Guardian» sagte der Menschenrechtsaktivist Wang Aizhong, der in der südchinesischen Stadt Guangzhou aktiv ist, das Abkommen könne Menschen, die aus Hongkong geflohen sind, in Gefahr bringen. Die Schweiz könne sich in einer «unangenehmen oder unmoralischen Lage» wiederfinden.

Die US-amerikanische Juraprofessorin Margaret Lewis sagte dem Blatt, sie könne sich kaum vorstellen, dass China Mitarbeiter in die Schweiz schicke, um lediglich Menschen aufzuspüren, die sich hier illegal aufhalten. Vielmehr sei es wahrscheinlich, dass die Mitarbeiter des Ministeriums für öffentliche Sicherheit daran interessiert seien, Menschen ausfindig zu machen, die für die chinesische Regierung «von Interesse» sind.



Noch weiter geht Leo Lan von der Menschenrechtsorganisation «Chinese Human Rights Defenders». Mit Blick auf Chinas bisherige Menschenrechtsbilanz sei es eine «legitime Befürchtung, dass rückgeführte Personen Folter oder anderen Misshandlungen» ausgesetzt werden könnten, so Lan im «Guardian». Ob das Abkommen mit China tatsächlich verlängert wird, ist derzeit noch offen.

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