Stark steigende Fallzahlen Diese Massnahmen fordern Experten jetzt für die Schweiz

Von Uz Rieger

15.11.2021

In Deutschland ist 2G mancherorts bereits Realität: Eingang zu einem Restaurant in Hamburg.
In Deutschland ist 2G mancherorts bereits Realität: Eingang zu einem Restaurant in Hamburg.
KEYSTONE

Die Covid-Fallzahlen in Mitteleuropa steigen rapide an. Österreich reagiert seit heute mit Verschärfungen, Deutschland könnte bald nachziehen, und hierzulande raten bislang vor allem Forscher zu strengeren Massnahmen.

Von Uz Rieger

Mit einer drastischen Verschärfung der Massnahmen hat Österreich auf den Anstieg der Fallzahlen reagiert: Seit heute herrscht im Nachbarland ein Lockdown für Ungeimpfte.

Sie dürfen nun nur noch die notwendigsten Erledigungen durchführen. Bei Nichtbeachtung drohen Strafen bis zu 1450 Euro. Und in Deutschland, wo die Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt ähnlich hoch lag wie in der Schweiz, werden bereits ähnliche Regeln wie in Österreich diskutiert.

Auch in der Schweiz gingen die Fallzahlen zuletzt deutlich nach oben: Seit vergangenem Freitag sind dem Bundesamt für Gesundheit BAG übers Wochenende 9702 neue Corona-Fälle gemeldet worden. Zugleich wurden 20 neue Todesfälle und 85 Spitaleinweisungen gemeldet.

Mageres Ergebnis der Impfwoche 

Die gerade zu Ende gegangene nationale Impfwoche wird den steigenden Fallzahlen dabei nicht unbedingt viel entgegensetzen. Die Erwartungen an die Aktion waren von Anfang an recht tief gehängt worden. Bundesrat Alain Berset etwa wollte sich auf keinen Zielwert festlegen lassen, ab wann die Impfwoche überhaupt als Erfolg zu gelten habe.

Er erklärte stattdessen: «Jede Impfung zählt.» Und tatsächlich befeuerte die Aktion die Impfrate insgesamt nur mässig: Zwar zeigen die aktuellen Zahlen des BAG von Montag, dass während der nationalen Impfwoche pro Tag durchschnittlich 14'956 Impfungen durchgeführt wurden. Damit stieg das Impftempo im Vergleich zur Vorwoche um 38 Prozent* – das allerdings auf einem relativ tiefem Niveau.

Die Zahlen seien damit schlechter als noch im September, als es mehr als 20'000 täglich waren, berichtet der «Tages-Anzeiger». Der Anteil der Bevölkerung, der doppelt geimpft wurde, konnte laut den BAG-Zahlen demnach mit der Aktion von 64,3 Prozent um 0,6 Prozent auf 64,9 Prozent gesteigert werden.

Booster werden das akute Problem nicht lösen

Nun sollen zwar doch baldmöglichst – idealerweise noch in diesem Jahr – sogenannte Booster-Impfungen für alle kommen, wie Impfchef Christoph Berger der «Sonntagszeitung» sagte. Allerdings ist den Experten durchaus bewusst, dass die Auffrischungsimpfung in der aktuellen Situation keinen unmittelbaren Effekt haben wird.

«Der Einsatz des Boosters kann – und dies muss klar gesagt werden – den jetzigen raschen Anstieg der Fallzahlen nicht ausreichend bremsen», sagte etwa der Basler Kantonsarzt Thomas Steffen zu «20 Minuten». Vor diesem Hintergrund warnt auch Taskforce-Chefin Tanja Stadler vor einer erneuten Überlastung der Spitäler. «Der Winter wird auf jeden Fall schwierig», sagte die ETH-Biostatistikerin der «SonntagsZeitung».

Mit den zusätzlichen Impfungen aus der Impfwoche könne man womöglich bis zu 500 Hospitalisierungen verhindern, so Stadler. Bei derzeit einer Million Impfberechtigter in der Schweiz, die noch nicht immun seien, wäre das aber bedeutend zu wenig: «Wir müssen mit 30'000 Hospitalisierungen rechnen, wenn wir wie bisher weiterfahren.»

Rasch impfen – oder starke Massnahmen

Aus wissenschaftlicher Sicht sei klar: «Entweder muss noch rasch sehr viel geimpft werden oder es braucht starke Massnahmen, um die Zirkulation zu bremsen.» Andernfalls werde das Gesundheitswesen erneut unter Druck geraten und das werde Qualitätseinbussen für alle Patientinnen und Patienten zur Folge haben, meint Stadler.

Deshalb werde auch die Politik nicht darum herumkommen, sich in den nächsten Wochen «ernsthaft Gedanken über ein neues Massnahmenpaket» zu machen. Die Taskforce-Chefin hofft dabei, dass eine Kombination bereits bekannter Massnahmen wie Masken, Hygieneregeln, Zertifikate, das Boostern und Shutdowns bereits ausreichen könne, um grossflächige Schliessungen zu verhindern.

Konkret denkbar sei etwa eine Ausweitung der Zertifikatspflicht etwa auf den Arbeitsplatz, wie es bereits im Ausland der Fall sei. Auch könne die Maskenpflicht zusätzlich bei Zertifikatsanlässen eingeführt werden.

«2G führt nicht aus der Problemzone»

Hinsichtlich der Einführung der sogenannten 2G-Regel, nach der nur Geimpften und Genesenen, nicht aber nur getesteten Personen Zutritt zu bestimmten Bereichen erlaubt wird, macht Stadler indes nicht nur Vorteile aus.

Es habe zwar eine bremsende Wirkung, wenn weniger Menschen an Veranstaltungen teilnehmen würden, allerdings sei zu befürchten, dass sich Treffen dann wieder ins Private verlagern würden und hier dann auch vermehrt Ansteckungen in kleinerem Rahmen möglich seien. Obendrein würden dann weniger Tests durchgeführt, wodurch man nicht mehr den gleichen Überblick über den Verlauf der Pandemie bekomme. Klar sei in jedem Fall: «Allein das Boostern oder 2G wird uns diesen Winter nicht aus der Problemzone führen», ist sich Stadler sicher.

Umfrage
Braucht es die 2G-Regelung in der Schweiz?

Gerade bei der 2G-Regel scheint es zudem ohnehin wenig politischen Willen zu geben, diese einzuführen. Erst letzte Woche sagte Alain Berset, er rechne nicht damit, dass diese Massnahme für die Schweiz nötig werde. Auch Kantonsarzt Steffen hält sie wohl nicht zuletzt deshalb kurzfristig für «nicht sehr wahrscheinlich», wie er «20 Minuten» sagte.

Seiner Meinung nach seien deshalb etwa eine Maskenpflicht am Arbeitsplatz und Schulen oder auch Personenbegrenzungen bei Veranstaltungen denkbare Optionen. Man solle hier aber «baldmöglichst mit dem gezielten Nachjustieren beginnen».

Während der Zuger Kantonsarzt Rudolf Hauri gegenüber «20 Minuten» zusätzlich noch das Homeoffice als weitere aktuelle Option sieht, forderte der Epidemiologe Marcel Salathé in der «Schweiz am Wochenende» indes einmal mehr eine Fokussierung auf die «wichtigen Faktoren»: mehr Erst- und rasche Booster-Impfungen.

Wohl keine strikten Verschärfungen vor der Abstimmung

In Anbetracht der steil steigenden Fallzahlen und Verschärfungen der Massnahmen in den Nachbarländern und den Forderungen aus der Wissenschaft dürften dem Bundesrat in dieser Woche ausgiebige Diskussionen über mögliche weitere Schritte bevorstehen.

Allerdings gehen Beobachter eher nicht davon aus, dass grössere Schritte in diese Richtung vor der Abstimmung zum Covid-Gesetz am 28. November kommen werden – das nicht zuletzt, um Gegnern des Gesetzes weitere Munition zu liefern.

Womöglich könnte der Bundesrat neben raschen Massnahmen deshalb tatsächlich noch einmal über die eigene Impfkampagne gehen und damit der Forderung Salathés nachkommen. Der Medizinhistoriker Flurin Condrau sieht nämlich historisch betrachtet in der Schweiz keine so ausgeprägte Impfskepsis, dass sie den derzeitigen «grossen Impfrückstand erklärt», wie er der NZZ sagte.

Fehler bei der Impfkampagne?

Gemäss einem Artikel des Magazins «Republik» sind vor allem ein fehlendes klares Impfziel, logistische Probleme, eine mangelnde Bewerbung der Impfung, Streitereien ums Geld, fehlende Antworten des Staates an Impfgegner und föderalistisches Wirrwarr Gründe für die niedrige Impfquote von derzeit knapp 65 Prozent.

Oder wie es Kantonsarzt Hauri gegenüber dem Magazin ausdrückt: «Ich bin kein Gegner des Föderalismus, aber es gibt Punkte, die wir hinterfragen sollten. Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen neu definieren. Und für eine brauchbare Zusammenarbeit braucht es ein übergreifendes nationales Organ, das in einer solchen Krise die Verantwortung trägt.»

Da die Installierung eines solchen Organs womöglich zu lange dauern wird, empfiehlt die Kommunikationswissenschaftlerin Suzanne Suggs von der Universität Lugano in der «Republik» eine emotional ansprechende Kampagne für die Impfung. Man müsse die Leute ernst nehmen, ihnen klare Ziele nennen, sie zudem aktiv informieren und ihnen den Zugang zur Impfung möglichst einfach machen.

* Korrigendum: In einer früheren Version dieses Artikels wurde hier fälschlicherweise von einer Verdoppelung des Impftempos während der Impfwoche berichtet.