Experte zu Gewalt in Bern «Der radikale Kern hat einen Anlass gefunden, um Dampf abzulassen»

Von Gil Bieler

17.9.2021

Die explosive Stimmung in Bern sei zu befürchten gewesen, sagt der Forscher Marko Kovic. Die erweiterte Zertifikatspflicht verleihe radikalen Massnahmengegnern nochmals Schub – man dürfe deren Rückhalt aber nicht überschätzen. 

Von Gil Bieler

Herr Kovic, wie hat sich die Stimmung im Land mit der erweiterten Zertifikatspflicht entwickelt?

Die Stimmung hat sich nochmals aufgeheizt – in jenen Kreisen, die ohnehin schon radikalisiert sind. Es gibt extremistische Kreise von Massnahmengegnern, die die Zertifikatspflicht nutzen, um die Leute nochmals aufzuhetzen und Hass zu schüren. Die Folgen davon haben wir am Donnerstagabend auf dem Bundesplatz gesehen. Wobei man nicht vergessen darf, dass sich die grosse Mehrheit der Bevölkerung gut mit der Zertifikatspflicht zu arrangieren scheint.

Was macht Bewegungen wie Mass-voll aus Ihrer Sicht extremistisch?

Die Rhetorik und Polemik, wo historisch deplatzierte Begriffe wie «totalitäres Corona-Regime» oder auch «Zerti-Diktatur» verwendet werden. Und es bleibt dann nicht bei dieser gefährlichen Rhetorik, sondern die hat dann irgendwann auch physische Konsequenzen. Leider.

Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause sprach davon, die Polizei habe einen «Sturm aufs Bundeshaus» verhindert – analog zum Sturm aufs Kapitol in Washington. Stimmen Sie zu?

Zur Person
Sozialwissenschaftler
zVg

Marko Kovic ist Sozialwissenschaftler und beschäftigt sich intensiv mit Gegnern der Corona-Massnahmen und gesellschaftlichem Wandel. 

Nach allem, was bislang in den sozialen Medien zu sehen und zu lesen ist, glaube ich nicht, dass ein effektiver Sturm des Bundeshauses geplant war. Man sollte natürlich einerseits nicht verniedlichen, was da vor sich gegangen ist, aber man sollte andererseits auch nicht skandalisieren. Von amerikanischen Verhältnissen sind wir noch einiges entfernt.

Trotzdem stellen Sie in einem Teil der Bevölkerung gerade eine Radikalisierung fest. Haben wir einen kritischen Punkt in der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht?

(überlegt) Ja und Nein. Einerseits glaube ich, dass die Zertifikatspflicht in der breiten Bevölkerung auf Verständnis und Wohlwollen stösst. Man sieht, dass es dadurch wieder mehr Freiheiten gibt und eine Normalisierung zumindest eingeleitet wird. Aber die kleine, radikalisierte Minderheit innerhalb der Massnahmenskeptiker – und das ist wirklich eine Minderheit innerhalb einer Minderheit – nimmt das jetzt zum Anlass, um ihre Fantasien über eine Diktatur oder Ähnliches nochmals hochzukochen. Es ist wie immer: Die grosse schweigende Mehrheit ist nicht zu hören, nur diese kleine Minderheit, die sehr viel Lärm macht.

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Was denkst du zur erweiterten Zertifikatspflicht?

Und die damit Gehör findet: In der Diskussion um die Zertifikatspflicht und die Corona-Tests dominiert die Frage, welche Probleme damit für Ungeimpfte entstehen.

Ich denke, dass das ein wesentlicher Aspekt ist. Man sollte mehr betonen, was die Idee hinter dieser Zertifikatspflicht ist. Es geht überhaupt nicht darum, Ungeimpfte zu schikanieren. Im Gegenteil: Die Zertifikatspflicht gibt uns allen, also auch den Ungeimpften, wieder mehr Freiheit in einer Pandemie, die noch nicht vorüber ist. Natürlich macht man damit eine kleine Minderheit hässig, dafür tut man der grossen Mehrheit aber etwas Gutes. Dass darüber diskutiert wird, dass die Covid-Tests weiterhin gratis bleiben sollen, finde ich übrigens nicht falsch. Es gibt meiner Meinung nach gute Gründe, die dafür sprechen.

Mittlerweile fordern ja alle grossen Parteien ausser der FDP, dass die Tests gratis bleiben sollen. Gleichzeitig steigt die Impfbereitschaft seit Kurzem wieder. Steckt der Bundesrat in einer Zwickmühle?

Durch den sanften Druck des Zertifikats lassen sich offenbar mehr Leute impfen. Jedoch wissen wir auch, dass gerade jene Bevölkerungsgruppen mit tieferem Einkommen sich auch seltener impfen lassen. Sie wären von kostenpflichtigen Tests stärker betroffen, was ich aus dem Gedanken der Fairness nicht gerecht fände. Es braucht wohl einen Kompromiss, um diesen Konflikt zu lösen. Da ist die Politik gefragt.

Stichwort Politik: SVP-Bundesrat Ueli Maurer posiert zum einen in einem Trychler-Shirt mit Impfgegnern – die Präsidenten von National- und Ständerat, beide ebenfalls SVP, verurteilen zum anderen die Gewalt in Bern. Welche Rolle spielt die grösste Partei im Land?

Die SVP befeuert die gesellschaftliche Spaltung in der Pandemie. Wir haben in den letzten Monaten immer wieder von bekannten Akteuren der SVP fragwürdige Rhetorik gehört. Sei es Ueli Maurer, der die Massnahmen anzweifelt oder mit der Trychler-Aktion auffällt, seien es Vorwürfe einer «Corona-Diktatur». Da wird aktiv Stimmung gemacht, um die Leute zu mobilisieren und wohl auch auf die Seite der SVP zu ziehen. Staatspolitisch halte ich das für eine so grosse Partei, die erst noch im Bundesrat vertreten ist, aber für absolut verantwortungslos. In der Schweiz ist das für eine grosse Landespartei pietätlos. Meiner Meinung nach sollte die SVP sich im Ton langsam wieder mässigen, weil das hat einen Effekt.



Um Maurer in Schutz zu nehmen: Er meinte in einem Interview, nicht alle Ungeimpften seien «Spinner oder Verschwörungstheoretiker». Das sehen Sie ja offenbar gleich, oder?

Genau, bei Weitem nicht jeder, der gegen eine Impfung ist, gehört zu diesem radikalisierten Kern. Gleichzeitig würde ich Ueli Maurer da nicht zu sehr in Schutz nehmen: Dass ausgerechnet er als Bundesrat diese Aussage trifft, ist von grosser Symbolik – und befeuert dann eben auch die radikalisierten Kreise, die wir in Bern gesehen haben.

Das Parlament ist von der Zertifikatspflicht aber explizit ausgenommen. Wo bleibt da die Vorbildfunktion?

Das Parlament hätte sich selbst eine Zertifikatspflicht auferlegen sollen. Der epidemiologische Effekt wäre bei ein paar Hundert Leuten natürlich gering gewesen, aber die Symbolkraft wäre sehr, sehr wertvoll gewesen.

Was steht uns in den nächsten Wochen bevor?

Mit den Demos wird es sicherlich noch eine Weile weitergehen. Der radikale Kern hat einen Anlass gefunden, um sich nochmals zu mobilisieren, um Dampf abzulassen. Gleichzeitig habe ich aber das Gefühl, dass die breite Bevölkerung immer weniger Verständnis für diese Bewegung hat. Langsam kommen wohl auch viele Leute, die zunächst noch unschlüssig waren, zum Schluss, dass sie mit solchen Kreisen nichts zu tun haben wollen. Und selbst innerhalb der Massnahmengegner überwiegt wohl jener Teil, der auf eine konstruktive Lösung hofft, anstatt einfach nur Lärm zu machen.

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