100 Jahre LandesstreikDer Landesstreik: Ein verschleppter Erfolg
David Eugster
12.11.2018
Vor 100 Jahren hat der erste und bis anhin letzte Schweizer Generalstreik stattgefunden. Nach drei Tagen wird er auf Grund der Drohkulisse der Armee beendet. Heute gelten viele Forderungen von damals als selbstverständlich. Was hat den Landesstreik damals ausgelöst – und was ihn beendet?
Dann war es vorbei. Das Oltener Aktionskomitee, das den schweizweiten Generalstreik organisiert hatte, verkündigte schlagartig seinen Abbruch – man schrieb den 14. November 1918. 250'000 Arbeiter und Arbeiterinnen in der ganzen Schweiz hatten gestreikt – ihnen gegenüber: 100'000 Soldaten als Drohkulisse.
Der Generalstreik hatte auf neun Forderungen gegründet, doch der Bundesrat war in jenem November auf keine davon verbindlich eingegangen. Dass sich das Oltener Aktionskomitee schliesslich zum Abbruch des Landesstreiks entschied, war ein Entscheid gegen ein Kräftemessen mit der Armee. Das Oltener Aktionskomitee rechtfertigte es so: Die Arbeiterschaft sei «nicht besiegt», sie habe nur Einsicht gehabt, den Kampf abzubrechen, solange es «ohne nutzlose Opfer noch möglich war».
Kaum jemand beklagte den Streikabbruch lauter als Ernst Nobs, SP-Stadtrat von Zürich und Chefredaktor des «Volksrechts»: Die Streikführung sei geradezu desertiert – «es ist zum Heulen! Niemals ist schmählicher ein Streik zusammengebrochen».
Zum Weinen wäre es wohl, wenn jener damalige Streik keinerlei Wirkung erzielt hätte – doch das lässt sich nicht behaupten. Freilich sind einige Forderungen, wie beispielsweise jene von der «Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden» bis heute nicht umgesetzt.
Doch mit dem Einlösen etwa der Hälfte der Forderungen sind die Streikenden zu spätem Recht kommen. Erst recht der zunächst verzweifelte Herr Nobs profitierte: 25 Jahre später wurde jener der erste sozialdemokratische Bundesrat der Schweiz. Dass dies überhaupt möglich wurde, war nicht zuletzt der späteren Erfüllung einer der Hauptforderungen des Generalstreiks geschuldet: Der Streik beschleunigte den Übergang vom Majorz- zum Proporzwahlrecht. Es veränderte die Verhältnisse im Parlament schlagartig und brachte die Sozialdemokraten als Macht nach Bern. Ausserdem setzte sich bis zum Ende des Jahrzehnts die 48-Stunden-Woche in den meisten Branchen durch.
Andere Forderungen brauchten einiges länger, bis sie eingelöst wurden: Die Alters- und Invalidenversicherung wurde 1948 eingeführt, das bereits vor dem Landesstreik erbetene Frauenstimmrecht erst ein halbes Leben später, 1971.
Jene Forderungen erscheinen heute wie selbstverständlich, urdemokratisch, keineswegs revolutionär und umstürzlerisch – das damals geforderte «Volksheer» entspricht übrigens in etwa dem heutigen Milizsystem.
Die bürgerliche Furcht vor einer Revolution
Noch einmal im Rückblick: Damals hatte der Bundespräsident Felix Calonder zwar beteuert, die Armee richte sich nicht gegen die Arbeiterschaft, sondern nur gegen «revolutionäre und anarchistische Umtriebe». Aber die Lage hatte sich dann eben doch schnell zugespitzt.
In Zürich etwa wurden Soldaten zu Beginn des Streiks tatsächlich Handgranaten ausgehändigt und die Schussfreigabe auf widerspenstige Zivilisten erteilt. Allein deshalb wollten die Streikführer keinen bewaffneten Konflikt zwischen der Armee und den Streikenden riskieren – und deswegen verkündeten sie an jenem Donnerstagmorgen eben das Ende des ersten schweizerischen Generalstreiks.
Doch nicht überall lief es glatt: In der Uhrmacherstadt Grenchen etwa erfuhren die Streikenden vom Streikabbruch nichts: Die Kommunikationswege waren unterbrochen worden, und wo doch Gerüchte über das Streikende durchdrangen, mochte man sie nicht glauben – man hatte einfach zu viel Propaganda gehört in den Jahren des Krieges. Die Stimmung in Grenchen war aufgeheizt, aber nicht von Gewalt durchtränkt. Dennoch lagen an einem Abend drei Männer tot da, von Schweizer Armeegewehren erschossen, zwei davon mit Schüssen in den Hinterkopf.
In den Köpfen der schussbereiten Soldaten, die schweizweit postiert worden waren, herrschte schlicht die Überzeugung, sie hätten auf Revolutionäre zu schiessen. Kontakte zu den russischen Kommunisten – man nannte sie auch «Maximalisten», weil sie moderate Positionen ablehnten – bestanden zwar durchaus. Doch in Wahrheit sahen selbst die Russen keine Hoffnung für eine radikale Umwälzung in der Schweiz.
Über den entscheidenden Mann hinter dem Landesstreik, den Sozialdemokraten Robert Grimm, nörgelte der Revolutionsführer Lenin, er sei ein «geborener Opportunist» – er erwartete wenig von ihm. Aber die Gerüchteküche brodelte in jener Zeit stets: Tausende Rubel an Bestechungsgeldern seien in die Schweizer Sozialdemokratie geflossen, behaupteten bürgerliche Kreise.
Und jahrzehntelang hielt sich die Legende, die Initiative sei mitnichten aus der Schweizer Arbeiterschaft gekommen, sondern ausländische Bolschewisten seien die bestimmende Macht hinter dem Streik gewesen. Historisch belegt wurde das nie, dennoch wird das Märchen, die Armee hätte die Schweiz damals vor einem kommunistischen Umsturz bewahrt, auch noch heute gern erzählt.
Hungerdemonstrationen
Richtiger ist: Die Armee und ihre Protagonisten haben den Streik aus der vagen Furcht vor einer Revolution letztlich erst ausgelöst. Ausgerechnet am 7. November 1918 – also ein Jahr nach dem Beginn der Oktoberrevolution in Russland – marschierten Tausende Soldaten in Bern und Zürich auf. Das Oltener Aktionskomitee nahm es als Aggression wahr und rief einen 24-stündigen Proteststreik aus: Am Samstag sollte nicht gearbeitet werden.
Doch viele Arbeiter in Zürich, die sich als Avantgarde der Proletarier der Nation verstanden, beschlossen danach, weiter zu streiken. Es kam schliesslich zur gewalttätigen Auflösung von Demonstrationen, ein Soldat wurde getötet – und die Armee blieb auf Posten. So reagierte das Aktionskomitee damit, in der Nacht vom Sonntag auf den Montag den Landesstreik auszurufen.
Ohne die desolate Situation vieler Schweizerinnen und Schweizer am Ende des Ersten Weltkrieges wäre die grosse Mobilisierung undenkbar gewesen. Die Nahrungsmittelversorgung in den Städten war miserabel, die Preise stiegen, während die Reallöhne um ein Viertel fielen. Soldaten erhielten im Dienst noch keinen Lohnersatz – die Familien mussten vom mageren Sold leben. Und die Frauen schlugen sich neben ihren oft über zehn Stunden Fabrikarbeit mit zusätzlicher Heimarbeit am späten Abend durch. Staatliche Hilfe gab es gerade kurz vor dem Verhungern, in durch Arbeiter und Arbeiterinnen organisierten «Volksküchen», später erhielt man auch in von den Städten eingerichteten Speisesälen das Nötigste.
Kurzum: Während gewisse Industrielle durchaus vom Krieg profitierten, herrschte in Arbeiterfamilien in den Städten bittere Armut.
Das entlud sich: Ab 1916 kam es auf Märkten zu «Kartoffel-Krawallen», wo die Bäuerinnen vehement zur Senkung ihrer überhöhten Preise aufgefordert wurden.
Im Frühling 1918 stürmten Hungrige eine Milchzentrale in Bellinzona.
In Zürich protestierten Tausende Frauen vor dem Rathaus mit Schildern wie «Unsere Kinder hungern» und «Wir fordern die Beschlagnahmung von Lebensmitteln».
In Biel kam es zum «Hungermarsch», Lastwagen voller Kartoffeln wurden geplündert, ein Mann wurde erschossen – dass die Armee bewaffnet auf die Bevölkerung trifft, war üblich geworden.
Konstatieren lässt sich auch, dass in jener Zeit die Anliegen des Oltener Aktionskomitees, jenem Zusammenschluss von Spitzen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei, schnell gewachsen waren. Zu sehr war die alltägliche Not der Bevölkerung in den Vordergrund getreten. Im Ursprung war das Komitee im Winter 1917/18 gegründet worden, um den Protest gegen einen vom Bundesrat geforderten Zivildienstpflicht zu formieren. Geplant war, neben dem für die Familien drückenden Militärdienst auch noch eine Art Landdienst einzuführen, um den Bauern bei der Ernte zu helfen.
Doch dann: der hohe Milchpreis, die Kartoffelknappheit. Man verhandelte mit dem Bundesrat zur Verbesserung dieser Missstände – und nur mit der Drohung des landesweiten Streiks wurden einige Zugeständnisse erreicht. Erst recht die Besetzung der Städte durch die Armee liess die Idee des Generalstreiks wieder aufflammen. Sie wurde umgesetzt, aber eine Revolution ergab sich aus ihr mitnichten.
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