Lagebild Ukraine Darum schlägt nun die Stunde der Infanterie

Von Philipp Dahm

4.7.2023

Moskau: Söldneraufstand hatte keinen Einfluss auf die Front

Moskau: Söldneraufstand hatte keinen Einfluss auf die Front

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat in seiner ersten Stellungnahme nach der erfolglosen Revolte der Wagner-Söldner die Treue und Einsatzbereitschaft der regulären Truppen gelobt. «Die Provokation hatte keine Auswirkungen auf die Handlungen der Streitkräftegruppierung (in der Ukraine)», sagte Schoigu am 3. Juli 2023 bei einer Sitzung im Ministerium.

04.07.2023

Weil der Einsatz von russischen Minen ihre Fahrzeuge ausbremst, muss die ukrainische Armee vermehrt auf Infanterie-Attacken setzen. Die sind mitunter sehr erfolgreich, wie sich am Dnjepr-Ufer und im Süden zeigt.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Fahrzeuge ausgebremst: Massenhaftes russisches Minenlegen wird für die ukrainische Gegenoffensive zum Problem.
  • Schützenpanzer und Panzer werden derzeit eher flankierend eingesetzt, um Vorstösse der Infanterie zu unterstützen.
  • Kleine Infanterie-Gruppen können grosse Effekte erzielen, zeigt ein ukrainischer Fall aus Saporischschja.
  • Am linken, östlichen Dnjepr-Ufer behaupten sich rund 70 Spezialkräfte geschickt gegen eine russische Übermacht.
  • Im Norden und Süden von Bachmut rücken Kiews Truppen weiter vor.
  • Plant der Kreml eine Offensive? Russland hat angeblich über 170'000 Soldaten im Osten und Norden der Front konzentriert.

Die ukrainischen Streitkräfte müssen furchtbare Verluste hinnehmen. Das sagt zumindest der russische Verteidigungsminister: «Die Gruppierungen russischer Kräfte haben 15 Flugzeuge, 3 Helikopter und 920 Panzer zerstört», berichtet Sergei Schoigu am 3. Juli laut der staatlichen Nachrichtenagentur «Tass» in einer Konferenz mit Offizieren.

Dabei will die Armee auch 16 Leopard ausgeschaltet haben: «Das sind sogar 100 Prozent dieses Typs, der von Polen und Portugal geliefert worden ist.» Seit dem Beginn der Gegenoffensive, den Moskau auf den 4. Juni taxiert, habe Kiew sogar 2500 verschiedene Fahrzeuge verloren.

Tatsächlich soll Warschau der Ukraine 14 Leopard 2A4 übergeben haben, während Lissabon angeblich 3 Leopard 2A6 geliefert hat. Visuell bestätigt sind bisher aber nur die Verluste von 3 Leopard 2A4 und 5 Leopard 2A6. Doch selbst wenn Moskau die Zahlen aufbauscht: Richtig ist, dass Fahrzeuge es derzeit schwer haben in der Ukraine.

Minen bremsen Fahrzeuge aus

Der Grund: Die russische Armee setzt massenhaft Minen ein, wie zuletzt auch das britische Verteidigungsministerium konstatiert. Diese Felder zu räumen, ist kompliziert – etwa wegen der verschiedenen Typen von Minen, die gelegt werden und die Bewegungsfreiheit der Truppen extrem einschränken.

So gesperrte Gebiete können durch Bombardierung geräumt werden, doch dafür fehlt es der Ukraine an Munition. Minenräumer sind anfällig für Beschuss durch Artillerie oder Panzerabwehrraketen: Sie können kaum unentdeckt arbeiten und eignen sich deshalb nur bedingt für den Job. Von Geräten, die mit Sprengladungen Gassen freimachen, gibt es zu wenige – und ihr Wirkungsbereich ist zu klein.

Schützenpanzer und Panzer sind bei der Gegenoffensive deshalb eher flankierend im Einsatz, während die Infanterie das Gros der Arbeit machen muss. Wie zum Beispiel im Süden des Landes vor dem Dorf Robotyne im Oblast Saporischschja unweit von Orichiw.

Angriff ist die beste Verteidigung

Im letzten Lagebild wurde bereits von Waleri «Mahura» Markus berichtet, der in einem Video erzählte, er habe in einer Nacht auf den Leichen des Gegners schlafen müssen. Der Oberkommandierende Walerij Saluschnyj kommentierte sein Video – und Bilder zeigen ihn beim Empfang mit dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Nun ist auch klar, warum: Seine 47. Mechanisierte Brigade hat einen russischen Graben erstürmt, bevor sich die Gegenseite zum Gegenschlag rüstete. Frei nach dem Motto «Angriff ist die beste Verteidigung» beschloss Markus ein Himmelfahrtskommando: Zwei Teams à zwei Mann sollten sich bei Nacht durch Artillerie- und MG-Feuer zum nächsten Graben schleichen und ihn einnehmen, bevor es die Russen tun.

Markus ging selbst voran, fand dadurch drei Freiwillige und dem Quartett gelang es dann auch, die russische Stellung einzunehmen, wie das obige Video von Reporting from Ukraine aufzeigt. Kein Wunder, dass der Oberstabsfeldwebel die Aufmerksamkeit der ukrainischen Führung auf sich zog.

Spezialkräfte behaupten sich am Dnjepr-Ufer

Infanterie spielt auch am östlichen Dnjepr-Ufer eine Rolle: Ukrainische Kräfte haben dort beim Dorf Dachi einen Brückenkopf gebildet, doch was können 70 Soldaten schon gross ausrichten?

Ukrainische Soldaten am östlichen Dnjepr-Ufer werden von Minen und Artillerie geschützt.
Ukrainische Soldaten am östlichen Dnjepr-Ufer werden von Minen und Artillerie geschützt.
YouTube/Military Lsb

Eine ganze Menge, wie sich zeigt: Sie haben einerseits Unterstützung durch Artillerie auf der rechten, westlichen Seite des Flusses. Und andererseits haben die Männer die Zufahrtsstrassen vermint: Der prorussische Telegram-Kanal Rybar beklagt am 30. Juni, dass die eigene Armee blind in diese Falle des Gegners gelaufen ist und unnötig viele Leute verloren hat.

Der Widerstand führt dazu, dass Moskau eine Iskander-Rakete auf die beschädigte Antoniwkabrücke abfeuert, die den Ukrainern Deckung gibt. Offenbar vergeblich, wie «Kyiv Post» und «Kyiv Independent» berichten: Moskau muss weitere Kräfte abstellen, um die ukrainische 73. Marine-Speznas zu vertreiben. Auch der schwere Flammenwerfer TOS-1 wurde nun angeblich extra dafür abgestellt.

Russen vor Rückzug aus Klischtschijwka

Während sich die russische Armee im Süden mit starken Verteidigungsstellungen auf die ukrainische Gegenoffensive vorbereiten konnte, gibt es bei Bachmut kaum solche Befestigungen. Beim Dorf Klischtschijwka im Süden gibt es zwei solche Stellungen, von denen die südliche angeblich eingenommen worden ist.

Die Befestigungen sind gelb eingezeichnet: Nach der Eroberung der südlichen Stellung müssen sich die russischen Truppen zurückziehen, um nicht eingekreist zu werden.
Die Befestigungen sind gelb eingezeichnet: Nach der Eroberung der südlichen Stellung müssen sich die russischen Truppen zurückziehen, um nicht eingekreist zu werden.
YouTube/Reporting from Ukraine

Die südliche Befestigung liegt erhöht, und weil gleichzeitig auch im Norden von Klischtschijwka vorgerückt wird, werden sich die russischen Besatzer früher oder später aus dem Dorf zurückziehen müssen. Auch im Norden von Bachmut stossen Kiews Soldaten offenbar vor. Das behauptet zumindest Igor Girkin, der militärische Führer der selbst ernannten Volksrepublik Donezk.

Doch auch der Kreml weiss, dass die Verteidigung bei Bachmut ausbaufähig ist. Deshalb hat er je nach Quelle 170'000 bis 180'000 Soldaten im Osten der Ukraine versammelt. Zum einen sollen sie verhindern, dass Bachmut fällt: Sollte die Stadt zurückerobert werden, nachdem die Gruppe Wagner sie mühsam eingenommen hat, wäre das für das russische Verteidigungsministerium eine Blamage.

Plant der Kreml eine Offensive im Norden und Osten?

Zum anderen konzentrieren sich die Verstärkungen angeblich im nördlichen Frontabschnitt nahe Kreminna. Dort versucht die russische Armee schon seit Wochen, ukrainische Soldaten im Wald im Süden der Stadt zu vertreiben.

Sollte das gelingen, könnte der Kreml vielleicht endlich die stark befestigte Siedlung Bilohoriwka im Süden des Waldes einnehmen, die wie ein Stachel im Fleisch der Besatzer sitzt. Das nächste wichtige Ziel wäre Siwersk: Die Stadt ist ein Logistik- und Verkehrsknotenpunkt in der Region.

Ein logistisches Zentrum für die Wartung von ukrainischen Leopard-Panzern in Polen wollen auch Warschau und Berlin aufbauen, doch ein Streit um die Finanzierung bremst das Vorhaben aus. Laut «Spiegel» will Polen für die «Erstbefundung» von Panzern 100'000 Euro berechnen. In Deutschland seien 12'000 Euro üblich.

Waffen-Update

Das Zentrum in Gliwice sollte eigentlich bereits im Mai eröffnen. Nun verspricht der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, er wolle in Kooperation mit Polen das Problem möglichst innert zehn Tagen lösen.

Während sich die Leopard-Panzer bei Sergei Schoigu wie auch der ukrainischen Armee grosser Beliebtheit erfreuen, hat sich der französische AMX-10 RC auf dem Schlachtfeld kaum bewährt. Der Spähpanzer verfügt über gute optische Geräte und eine 105-Millimeter-Kanone, die sich vor der Konkurrenz nicht unbedingt verstecken muss.

Doch die dünne Panzerung macht den AMX-10 RC für den Dienst in der ersten Reihe unbrauchbar. «Es gab Fälle, in denen ein [Artillerie-Geschoss] in der Nähe explodiert ist und die Splitter das Vehikel durchschlagen haben», erklärt «Major Spartanets» dem Sender «Euronews». In einem Fall habe das die Munition entzündet: Vier Soldaten seien dabei gestorben.

Und noch eine schlechte Nachricht für Kiew: Die dringend benötigten F-16-Jets werden nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen, um bei der Gegenoffensive zu helfen. «Die Diskussion um die Jäger ist wichtig, wird aber für die Gegenoffensive nicht kurzfristig gelöst werden», erklärt Admiralleutnant Rob Buer von der Nato dem Sender LBC. Es würde zu lange dauern, Piloten und Mechaniker auszubilden und die Logistik bereitzustellen, so der Niederländer.