China öffnet die GrenzenKommt die Pandemie nun zurück?
Von Julian Weinberger
4.1.2023
Corona-Welle in China: Überfüllte Krankenhäuser in Shanghai
In einem Krankenhaus in Shanghai stauen sich die Betten mit kranken Patienten in den Fluren: Nach dem Ende der Null-Covid-Politik in China breitet sich das Coronavirus dramatisch aus. Allein in Shanghai sollen 70 Prozent der Bevölkerung infiziert
03.01.2023
Trotz einer massiven Corona-Welle öffnet China am Sonntag erstmals seit Pandemiebeginn die Grenzen. In Europa reagiert man mit Sorge: Kommt die verschwunden geglaubte Pandemie zurück?
Von Julian Weinberger
04.01.2023, 23:55
05.01.2023, 10:27
Von Julian Weinberger
Nach drei Jahren öffnet sich China wieder der Welt. Dem Ende der Null-Covid-Politik, das am 7. Dezember bekannt gegeben worden war, folgt am Sonntag die Öffnung der Grenzen. Was für die Einheimischen ein beträchtliches Mass an zurückgewonnener Freiheit bedeutet, wird ausserhalb Chinas kritisch und voller Sorge beobachtet.
Schliesslich befindet sich das Land gerade mitten in einer gewaltigen Corona-Welle. Offiziell unbestätigten internen Schätzungen nach haben sich allein in den ersten drei Dezemberwochen 248 Millionen Menschen in China mit dem Coronavirus infiziert.
Für den Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH), Jürg Utzinger, sind die hohen Infektionszahlen angesichts der Aufhebung der Rigorosen Null-Covid-Strategie keine Überraschung: «Aufgrund der ungenügenden Bevölkerungsimmunität musste davon ausgegangen werden, dass grosse Ansteckungswellen innerhalb von China folgen würden», so der Epidemiologe gegenüber blue News.
Bereits für diesen Winter rechnet der Epidemiologe Ben Cowling von der Universität Hongkong laut «Tagesschau» mit einer Milliarde Menschen, die sich in China mit dem Coronavirus infizieren. Das wären 70 Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Experte berfüchtet auch: «Das sind viele Möglichkeiten für das Virus, sich in eine neue Richtung zu entwickeln, vielleicht in eine neue Untervariante von Omikron oder sogar eine neue Variante.»
Wie gefährlich ist die neue Corona-Variante BF.7?
Die Datenlage aus China ist, und da gibt es durchaus Parallelen zum Ausbruch der Pandemie, jedoch dünn. Auf offizielle Ansteckungszahlen verzichtet die chinesische Gesundheitsbehörde seit Kurzem. Die Todesstatistiken sind verzerrt und wohl weit weg von der Realität, weil nur Corona-Infizierte einberechnet werden, bei denen Lungenentzündung oder Atemversagen als Todesursache festgestellt wurden.
Auch deshalb forderte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zuletzt mehr Transparenz seitens China. Insbesondere pocht die WHO auf schnellere und detailgenauere Lageberichte und eine genetische Sequenzierung infolge positiver Corona-Tests.
«Daten sind von zentraler Bedeutung, um das aktuelle Corona-Geschehen in China und anderswo auf der Welt quasi in Echtzeit zu beobachten», erklärt Jürg Utzinger. Dazu gehöre insbesondere der Nachweis neuer Varianten. «So lassen sich massgeschneiderte Massnahmen ergreifen, um gezielt gegen die Pandemie anzukämpfen.»
Eine neue Corona-Variante hat sich durch den massiven Ausbruch des Virus in China bereits gebildet: BF.7. Die äusserst infektiöse Mutation steckt auch Menschen an, die bereits eine Infektion hinter sich haben. Auch Geimpfte können betroffen sein.
Laut Epidemiologe Utzinger scheint es sich bei BF.7 um eine Weiterentwicklung von SARS-CoV-2 zu handeln, «die sich schneller ausbreiten und damit vermehrt klinische relevante Krankheitsverläufe hervorrufen kann, vor allem in der jetzigen Situation in China».
Spekulationen über neue, gefährliche Corona-Varianten
Auch wenn BF.7 in Ländern wie Deutschland bereits die dominante Variante ist, gab Virologe Christian Drosten schon Ende November im Interview mit der «Zeit» vorsichtige Entwarnung. Die hohe Immunität innerhalb der Bevölkerung lasse höchstens eine «sanfte Winterwelle» erwarten. Erkenntnisse, dass BF.7 ein gravierenderes Krankheitsgeschehen auslöse wie andere BA.5-Subvarianten, liegen derzeit nicht vor.
Doch die aktuell scheinbar unkontrollierte Ausbreitung in China birgt ein anderes Risiko, über das sich laut Experten aktuell nur spekulieren lässt: neue, womöglich gefährliche Corona-Varianten. «China hat eine sehr grosse Bevölkerung, und es gibt nur begrenzte Immunität. Und das scheint die Basis zu sein, auf der wir vielleicht die Explosion einer neuen Variante beobachten», gab Stuart Campbell Ray, Fachmann für Infektionskrankheiten an der Johns Hopkins University in Baltimore, gegenüber der Nachrichtenagentur AP zu bedenken.
Eine kürzliche Untersuchung von Richard Neher, Forscher an der Uni Basel, machte allerdings bis dato keine stark abweichenden Mutationen aus. US-Gesundheitsforscher Chris Murray sprach gegenüber «CNBC» auch nur von einem «geringen Risiko», dass in China eine neue, gefährliche Variante entstünde. Ähnlich sieht es der Schweizer Epidemiologe Christian Althaus, der gegenüber SRF sagte: «Eine neue, gefährliche Variante dürfte wohl eher in anderen Ländern auftreten, wo bereits viele Menschen mit dem Virus infiziert wurden.»
EU berät über einheitliches Vorgehen
Über den richtigen Umgang mit chinesischen Touristen herrscht in Europa derweil noch Uneinigkeit. Länder wie Frankreich, Italien und Spanien haben bereits eine Testpflicht für Einreisende aus China beschlossen. In der Schweiz verzichtet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) noch auf «grenzsanitarische Massnahmen». Man beobachte die Situation jedoch aufmerksam und werde sich, wenn nötig, an den Bestimmungen der EU orientieren, teilte das BAG am vergangenen Freitag mit.
Der Chef des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, forderte am Mittwoch in der «Rheinischen Post»: «Die Infektionen laufen völlig unkontrolliert ab. Daher halte ich es für sinnvoll, eine PCR-Testpflicht bei der Einreise vorzuschreiben.» Neue Varianten aus China seien nicht auszuschliessen.
Auf ein einheitliches Vorgehen der EU-Länder, für das sich Montgomery ebenfalls aussprach, konnte man sich jedoch nicht einigen: Am Mittwoch wurde über den koordinierten Umgang mit chinesischen Reisenden beraten, doch zu einer EU-weiten Testpflicht für Reisende aus der Volksrepublik kam es nicht. Empfohlen wird sie jedoch ausdrücklich.
Weniger sorgenvoll als Montgomery beurteilt man bei der EU-Gesundheitsbehörde ECDC die Lage in China. In einer Mitteilung von Dienstag heisst es: «Die Varianten, die in China zirkulieren, zirkulieren auch schon in der EU, und stellen als solche keine Herausforderung für die Immunantwort von Bürgern der Europäischen Union dar.»
Auch Jürg Utzinger schätzt gegenüber blue News die Gefahr einer neuerlichen, grossen Corona-Welle als eher gering ein: «Hier hat sich in den vergangenen 3 Jahren eine hohe Bevölkerungsimmunität aufgebaut, einerseits durch die Impfungen und andererseits durch die Ansteckungen.»
China droht mit «Gegenmassnahmen»
Den Bedenken aus Europa und dem Rest der Welt begegnet man in China verschnupft. Mao Ning, die Sprecherin des chinesischen Aussenministeriums, beklagte am Dienstag, eine «Einreisebeschränkung, die sich nur gegen chinesische Reisende richte», entbehre einer wissenschaftlichen Grundlage.
Ausserdem drohte sie mit möglichen «Gegenmassnahmen», denn: «Wir wenden uns entschieden gegen Versuche, die Corona-Massnahmen zu politischen Zwecken zu manipulieren.» Wie solche Massnahmen aussehen könnten, führte Ning aber nicht aus.
Trotzdem provozierte die pikierte Ansage aus dem politischen Machtzentrum Chinas eine Reaktion aus Washington. Die Pressesprecherin des Weissen Hauses, Karine Jean-Pierre, teilte am Mittwoch mit, es gebe «keinen Grund für Vergeltungsmassnahmen» Pekings gegen Länder, die «umsichtige Gesundheitsmassnahmen ergreifen, um ihre Bürger zu schützen». Den Vorwurf Chinas in Bezug auf eine fehlende wissenschaftliche Grundlage wies Jean-Pierre zurück.
Provinzen in China droht grossflächiger Corona-Ausbruch
Die aktuelle Corona-Lage in China bleibt derweil unübersichtlich. Einer neuen Studie zufolge scheint in Millionenmetropolen wie Peking oder Shanghai der Scheitelpunkt bereits überschritten zu sein. Die wissenschaftliche Arbeit, die am Mittwoch im Magazin «Frontiers of Medicine» veröffentlicht wurde, erwartet jedoch, dass die Corona-Welle auf die Provinzen in Zentral- und Westchina gravierende Auswirkungen haben könnte.
Zusätzlich könnten die Reisen rund um das Neujahrsfest am 22. Januar die Lage verschlimmern. Dadurch könne die Dauer und das Ausmass des prognostizierten Ausbruchs «dramatisch erweitert» werden, warnten die Forscher. Besonders besorgniserregend: In den betroffenen Gebieten fehlt es häufig an guter medizinischer Versorgung, viele der Einwohner*innen sind schon älter und die Impfquoten in China weiter ausbaufähig.
Im Hier und Jetzt stellt die Corona-Welle China vor grosse Herausforderungen. In den Spitälern herrscht seit Wochen Hochbetrieb, die Krematorien kommen kaum mit den Einäscherungen Verstorbener hinterher. Dazu werden Fieber- und Erkältungsmedikamente knapp. Schnell wird sich daran wohl aber nichts ändern: Experten prognostizieren, dass der grossflächige Ausbruch noch bis März oder April dauern wird.